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Keine Schwarz-Weiß-Malerei – Emil Nolde im Nationalsozialismus

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Ein Anliegen der Sonderausstellung „Emil Nolde. Retrospektive“ ist es, Noldes Verhältnis zum Nationalsozialismus offen anzusprechen und sich damit umfassend auseinanderzusetzen. Wir sprachen für das Städel Blog mit Felicity Grobien, Projektleiterin der Retrospektive, über dieses weitreichende Thema.

 

Emil Noldes 1911 und 1912 entstandene Werk „Das Leben Christi“ in der Ausstellung „Entartete Kunst“ in Berlin, Februar 1938

Emil Noldes 1911 und 1912 entstandenes Werk „Das Leben Christi“ in der Ausstellung „Entartete Kunst“ in Berlin, Februar 1938

 

Beim Betrachten von Noldes bunten Werken fällt es manchmal schwer nachzuvollziehen, dass Nolde ein bekennender Nationalsozialist war. Woran kann man Noldes politische Einstellung festmachen und wie wird in der Retrospektive im Städel mit diesem Aspekt umgegangen?
Emil Nolde trat schon 1934 der Nationalsozialistischen Arbeitsgemeinschaft Nordschleswig bei, die ein Jahr später mit anderen NS-Organisationen der Region die NSDAP Nordschleswig mitbegründeten. Er blieb bis zum Ende des Krieges in der Partei und berief sich immer wieder auf seine Mitgliedschaft. Aus den Jahren 1933 bis 1945 gibt es zahlreiche Dokumente, die belegen, dass Nolde und seine Frau sich für die Ideologie und Politik der Nationalsozialisten begeisterten und die „Machtergreifung“ begrüßten. Außerdem finden sich nicht nur im Briefwechsel Noldes, sondern auch im zweiten Band seiner Autobiografie, „Jahre der Kämpfe“, der 1934 erschienen ist, mehrere antisemitische Passagen. Unserer Ansicht nach ist es wichtig, hierüber ganz offen zu sprechen, denn ein Künstler wie Nolde muss in seinem historischen Kontext betrachtet werden.

 

Seit wann ist bekannt, dass Nolde den Nationalsozialisten nahe stand?
Schon in den späten 1940er Jahren wiesen unter anderen der Kunstkritiker Adolf Behne und der Künstler Karl Hofer darauf hin, dass Nolde das Regime unterstützt hatte und sich hinter seiner Opferrolle verstecke. Die Mehrheit der Kunsthistoriker und Rezensenten ließ diesen Aspekt aber unter den Tisch fallen. Zu Noldes 100. Geburtstag 1967 hielt Walter Jens in Seebüll eine Rede, in der er Noldes ambivalente Rolle während des Nationalsozialismus ansprach. Seitdem sind einige sehr gute Artikel zu diesem Thema erschienen, aber die Tatsache ist nicht in das Bewusstsein der breiten Öffentlichkeit gelangt und wurde bisher noch nicht in einer Retrospektive thematisiert.

 

Brief des Präsidenten der Reichskammer der bildenden Künste, Adolf Ziegler, an Emil Nolde, 23.8.1941, Nolde Stiftung Seebüll

Brief des Präsidenten der Reichskammer der bildenden Künste, Adolf Ziegler, an Emil Nolde, 23.8.1941, Nolde Stiftung Seebüll

 

Inwiefern war Nolde selbst Opfer der nationalsozialistischen Kulturpolitik? Schließlich war er der Künstler, von dem die meisten Werke in der Aktion „Entartete Kunst“ beschlagnahmt wurden, oder?
Man muss vorsichtig sein mit Begriffen wie „Opfer“, „Täter“ oder „Mitläufer“ zu operieren – diese Schwarz-Weiß-Malerei funktioniert nicht. Aber es ist richtig, von Nolde wurden insgesamt 1.102 Werke aus deutschen Museen beschlagnahmt und davon waren knapp 50 in der Femeausstellung „Entartete Kunst“ zu sehen. Wichtig ist allerdings zu beachten, dass von ihm auch deswegen so viele Werke beschlagnahmt werden konnten, weil er sehr prominent in den musealen Sammlungen vertreten war. Nolde war ungeheuer erfolgreich in der Weimarer Republik, was auch einer der wichtigsten Gründe dafür ist, warum viele Nationalsozialisten starken Anstoß an ihm und seiner Kunst nahmen.

 

Welche Konsequenzen hatte das Berufsverbot, das Nolde 1941 von der Reichskammer der bildenden Künste mit dem Ausschluss aus der Kammer auferlegt wurde?
Das Verbot führte dazu, dass Nolde seine Werke nicht mehr verkaufen, ausstellen und publizieren durfte – hierfür hätte er seine Arbeiten der Kammer vorlegen müssen. Zudem durfte er offiziell keine Malutensilien beziehen. Nolde wusste das Verbot aber zu umgehen: Händler verkauften unter der Hand weiterhin seine Werke und Freunde und Bekannte versorgten ihn mit Ölfarbe und Leinwand. In der Ausstellung sind sowohl Gemälde zu sehen, die während des Verbotes entstanden, wie zum Beispiel „Großer Mohn (rot, rot, rot)“ (1942), als auch ein Werk, das Nolde noch 1944 direkt an den Hannoveraner Bernhard Sprengel verkaufte, „Königskerze und Lilien“ (1939).

 

Kennen Sie Dokumente, die belegen, dass die Gestapo Noldes Wohnsitz in Seebüll durchsuchte und überwachte, ob er sich an die Vorgaben des Verbotes hielt?
Nein, diese sind bislang nicht bekannt. Die Annahme, dass Nolde systematisch überwacht worden ist, beruht unserem Wissen nach vor allem auf Siegfried Lenz erfolgreichem Roman „Deutschstunde“ von 1968, für dessen Romanfigur Max Ludwig Nansen Emil Nolde als Vorbild diente. Wenn Nolde tatsächlich eine Durchsuchung gefürchtet hätte, hätte er vermutlich ganz aufgehört, in Öl und in großen Formaten zu arbeiten.

 

Wurde 1944 direkt an den Hannoveraner Bernhard Sprengel verkauft: Emil Nolde (1867–1956); Königskerze und Lilien, 1939; Öl auf Leinwand, Stiftung Sammlung Ziegler im Kunstmuseum Mülheim an der Ruhr; © Nolde Stiftung Seebüll

Wurde 1944 direkt an den Hannoveraner Bernhard Sprengel verkauft: Emil Nolde (1867–1956); Königskerze und Lilien, 1939; Öl auf Leinwand, Stiftung Sammlung Ziegler im Kunstmuseum Mülheim an der Ruhr; © Nolde Stiftung Seebüll

 

Ist bekannt, ob die Verfemung von Noldes Werken und das Berufsverbot dazu führten, dass er sich gegen die Ideologie der Nationalsozialisten stellte?
Nein, auch die Schmutzkampagne und das Verbot hatten nicht zur Folge, dass Nolde sich von der nationalsozialistischen Ideologie distanzierte. Er setzte sich bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges für die Anerkennung durch das Regime ein. Wenn man Noldes Bekundungen zu „Führer, Volk und Vaterland“ liest, muss man aber natürlich bedenken, dass vermutlich anteilig auch Opportunismus eine Rolle spielte.

 

Inwiefern verändert sich der Blick auf Noldes Kunst durch diese Hintergründe zu seiner Person und politischen Haltung?
Unserer Meinung nach erweitert die Berücksichtigung der historischen Umstände, unter denen der Künstler gearbeitet hat, den Blick auf die Werke. So stößt man darauf, wie Nolde nach 1933 aufhört, die bei den Nationalsozialisten besonders unbeliebten religiösen Figurendarstellungen oder exotische Südseemotive zu malen. Stattdessen entstehen Arbeiten mit einem weicheren, fast lieblichen Duktus und fast ausschließlich Landschaften und Blumenbilder. Letztendlich muss aber jeder diese Frage für sich selbst beantworten – die Retrospektive lädt dazu ein, sich mit der Thematik auseinanderzusetzen.

 

Die Ausstellung „Emil Nolde. Retrospektive“ ist noch bis zum 15. Juni 2014 im Städel Museum zu sehen. Am 20. März 2014 hielt der Historiker Bernhard Fulda, der im Ausstellungskatalog gemeinsam mit Aya Soika den Beitrag „,Deutscher bis ins tiefste Geheimnis seines Geblüts‘. Emil Nolde und die nationalsozialistische Diktatur“ verfasst hat, hierzu einen Vortrag im Städel. Anschließend fand eine Podiumsdiskussion mit Fulda, dem Journalisten Stefan Koldehoff und Ausstellungskurator Felix Krämer statt.

 

 

Das Gespräch führte Felicity Grobien mit Karoline Leibfried, Pressereferentin am Städel Museum. 

 

 

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Ein „Mädchen mit Puderdose“ für das Städel

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Dem Städel Museum ist es gelungen, ein Hauptwerk von Lotte Laserstein für die Sammlung zu sichern: Seit kurzem schmückt das Gemälde „Russisches Mädchen mit Puderdose“ (1928) die Galerieräume der „Kunst der Moderne“. Damit ist das Städel das erste öffentliche Museum in Deutschland außerhalb Berlins, das ein Werk dieser Künstlerin erworben hat.

 

Lotte Laserstein (1898–1993); Russisches Mädchen mit Puderdose, 1928; Öl auf Holz, 31,7 x 41 cm; Städel Museum, Frankfurt am Main; Foto: Städel Museum – ARTOTHEK; © VG Bild-Kunst, Bonn

Lotte Laserstein (1898–1993); Russisches Mädchen mit Puderdose, 1928; Öl auf Holz, 31,7 x 41 cm; Städel Museum, Frankfurt am Main; Foto: Städel Museum – ARTOTHEK; © VG Bild-Kunst, Bonn

 

Nach langjährigen Bemühungen ist es dem Städel gelungen, ein Gemälde von Lotte Laserstein (1898–1993) für die Städelsche Sammlung zu sichern und dem Publikum damit eine wichtige Protagonistin der Neuen Sachlichkeit zugänglich zu machen. Bei dem 31,7 x 41 cm großen Ölgemälde „Russisches Mädchen mit Puderdose“ handelt es sich um ein Hauptwerk der Künstlerin, welches ihre Formensprache und Modernität eindrücklich zur Geltung bringt. Es zeigt ein junges, modisch gekleidetes Mädchen mit einem für die Zeit typischen, burschikosen Haarschnitt. Die Dargestellte begutachtet ihre Frisur mithilfe einer Puderdose in einem großen Spiegel. Die flächige Malweise des Hintergrundes, der Kleidung und des Spiegels kontrastiert mit den präzise ausgeführten Details der Hände und des Gesichts. Effektvoll bedient sich Laserstein ästhetischer Stilmittel wie farblicher Hell-Dunkel-Kontraste und Frontalansicht. Das Werk ergänzt in der Städelschen Sammlung hervorragend den Bestand der Malerei der Weimarer Zeit und wird ab sofort Arbeiten von Otto Dix, Maximilian Klewer, Ottilie Roederstein oder Karl Hubbuch an die Seite gestellt.

 

„Das schönste deutsche Frauenporträt“
Laserstein studierte an der Berliner Kunstakademie und wurde dort 1925 mit der Goldmedaille ausgezeichnet. Ihre erste Einzelausstellung hatte sie 1931 in der renommierten Berliner Galerie von Fritz Gurlitt. Dort wurde auch das „Russische Mädchen“ einst ausgestellt: 1928 nahm Laserstein mit der Arbeit an dem Wettbewerb „Das schönste deutsche Frauenporträt“ teil und unter 365 Werken für die Endrunde nominiert. Die 26 ausgewählten Gemälde wurden in der Galerie Gurlitt ausgestellt und von einem breiten Publikum begeistert aufgenommen.

Lasersteins einsetzende Karriere wurde durch den Nationalsozialismus jäh beendet. 1937 sah sich die Künstlerin aufgrund ihrer jüdischen Herkunft gezwungen, nach Schweden zu emigrieren, wo sie bis zu ihrem Tod 1993 lebte. Das Gemälde „Russisches Mädchen mit Puderdose“  nahm die Künstlerin mit ins schwedische Exil. Ab 1954 wohnte sie in der südschwedischen Stadt Kalmar nahe Nybro.

 

Ankauf von der Gemeinde Nybro
Aus eigener Initiative heraus hat das Frankfurter Museum „Russisches Mädchen mit Puderdose“ nun aus dem Besitz der schwedischen Gemeinde Nybro erworben. Das Gemälde wurde in den 1970er-Jahren von einem Altersheim in Nybro von der Künstlerin angekauft. Die Gemeinde hatte das Altersheim – und mit ihm auch das Gemälde – in den 1990er-Jahren übernommen. Die Mittel des Ankaufs fließen vollständig in den Kulturetat der 20.000 Einwohner zählenden Gemeinde; unter anderem soll damit ein Mahnmal gegen Rassismus errichtet werden.

 

 

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Mitarbeiter des Städel: Iris Schmeissers Arbeit als Provenienzforscherin

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Viele Gesichter und unzählige verschiedene Berufe sind im Städel Museum anzutreffen. In diesem Beitrag stellen wir die Arbeit von Provenienzforscherin Iris Schmeisser genauer vor. Dafür zoomen wir nicht nur auf ihren Schreibtisch, sondern Ihr erfahrt mehr über die komplexe Arbeit, um die genaue Herkunft von Kunstwerken möglichst lückenlos aufzudecken.

 

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Provenienzforscherin Iris Schmeisser vor der Büste von Museumsstifter Johann Friedrich Städel. Foto: Städel Museum

 

Die Herkunft erforschen
Der Begriff Provenienz leitet sich vom lateinischen Verb “provenire” – auf Deutsch “herkommen” – ab. In der Provenienzforschung geht es entsprechend darum, die Herkunft von Kunst- und Kulturgütern möglichst lückenlos nachzuweisen und zu dokumentieren. Seit 1998 hat diese wissenschaftliche Arbeit  enorm an Bedeutung gewonnen. In dem Jahr unterzeichnete Deutschland neben 43 anderen Staaten die sogenannte „Washingtoner Erklärung“. Darin vereinbarten die Unterzeichnerstaaten, während der NS-Zeit beschlagnahmte und in der Folge nicht zurückerstattete Kunstwerke zu identifizieren und Schritte zu unternehmen, um eine faire und gerechte Lösung zu finden. Umgesetzt werden sollte dies in der Praxis unter anderem mit der Einrichtung eigener Forschungsstellen an Museen. Das Städel Museum engagierte sich schon früh auf dem Gebiet der Provenienzforschung und kann in Deutschland sicherlich als Vorreiter bezeichnet werden. Seit 2002 betreibt das Haus kontinuierliche und akribische Recherchearbeit und bemüht sich darum, die Herkunft der nach 1932 erworbenen und vor 1946 entstandenen Kunstwerke zu erschließen.

Darüber hinaus hat die Administration und Direktion des Städel 2008 in Zusammenarbeit mit der Forschungsstelle „Entartete Kunst“ (FU Berlin / Universität Hamburg) unter der Leitung von Prof. Dr. Uwe Fleckner ein Vorhaben initiiert, das den widerspruchsvollen Weg des Städelschen Kunstinstituts durch die Jahre des nationalsozialistischen Regimes nachzeichnete. Die Ergebnisse der unabhängigen Untersuchung wurden in einem Symposium und schließlich 2010 in der umfassenden Publikation „Museum im Widerspruch“ im Akademie-Verlag Berlin veröffentlicht.

 

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Wie ein kleinteiliges Puzzle: Die Rekonstruktion der Provenienz eines Werkes muss nach und nach zusammengesetzt werden. Foto: Städel Museum

 

Systematische Recherche  der Bestände
Iris Schmeisser arbeitet seit 2014 als Provenienzforscherin im Städel.  Bei jedem einzelnen Werk steht die Frage der Herkunft auf dem ethischen  und juristischen Prüfstand. Im Hinblick auf die NS-Zeit müssen die Umstände möglicher Besitzerwechsel genau überprüft werden. NS-Verfolgte mussten oft aus sozialer Not ihre Kunstsammlung veräußern, etwa um eine Flucht ins Exil zu finanzieren. Nicht selten verkauften die Opfer von Verfolgung und Diskriminierung ihre Besitztümer weit unter Wert. Stößt die Provenienzforscherin auf solche Fälle, dann geht es darum, eine faire und gerechte Lösung auszuarbeiten. Dafür müssen aber zunächst die rechtmäßigen Eigentümern ermittelt werden. Dies ist in vielfacher Hinsicht keine leichte Aufgabe, weiß Iris Schmeisser zu berichten. Manchmal ist die Quellenlage aus unterschiedlichen Gründen nicht eindeutig. Manche Akten wurden im Krieg zerstört, sodass sich die Spur nicht weiter verfolgen lässt. Andere Dokumente befinden sich in privaten Unterlagen, in die man nicht ohne Weiteres Einsicht erhält. Was die Recherche für Schmeisser allerdings besonders herausfordernd und gleichzeitig besonders wichtig macht, ist die Aufarbeitung des Schickals der oftmals in Vergessenheit geratenen jüdischen Vorbesitzer.

Bisher konnten aufgrund der Forschungsarbeit am Städel vierzehn  als Raubkunst identifizierte Objekte an die rechtmäßigen Eigentümer restituiert werden. Einen Teil der Werke gab das Städel an die Besitzer zurück, andere Werke kaufte das Museum im Einverständnis mit den Erben  zurück.

 

 

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Weiterhin ein unabdingbarer Faktor: die direkte Recherche vor Ort. Foto: Städel Museum

 

Wie ein kleinteiliges Puzzle
Oftmals gleicht die Rekonstruktion der Provenienz eines Werkes einem kleinteiligen Puzzle, das nach und nach zusammengesetzt werden muss. Im Idealfall stößt Schmeisser bei ihrer Recherche in Archiven und Datenbanken auf sogenannte direkte  Dokumentation. Das können Kaufbelege oder Verträge sein, die einen Besitzerwechsel eindeutig belegen. Nicht selten muss die Forscherin jedoch mit Quellen arbeiten, die nicht aus erster Hand stammen. Hierbei handelt es sich etwa um schriftliche Aussagen oder Briefwechsel, die von Dritten verfasst wurden. Diese müssen auf ihre Zuverlässigkeit und Deckungsgleichheit mit anderen Quellen hin ausgewertet werden. Die schrittweise Digitalisierung von Archiven erleichtert Schmeissers Arbeit dabei ungemein.  Trotzdem ist die direkte Recherche vor Ort weiterhin ein unabdingbarer Faktor. Besonders spannend findet Iris Schmeisser an ihrer Arbeit, dass die Werke die Forschungsmethode und Quellen vorgeben, die in ganz unterschiedlichen Archiven verstreut sein können — je nach Objekt und dessen Biografie.

 

Provenienzforscher vernetzen sich
Parallel zum Mammutprojekt, die Provenienz des nach 1932 erworbenen Städel Bestandes zu erforschen, gehört es zu Schmeissers Aufgaben, Archivanfragen zu bearbeiten, etwa wenn sich Provenienzforscher anderer Häuser mit Besitzern  befassen, deren Werke ebenfalls in der Städelschen Sammlung vertreten sind. Durch den Austausch und die Vernetzung von Forschern hat sich die Aussicht auf möglichst lückenlose Aufklärung der Provenienzen in den letzten Jahren entscheidend verbessert. Das Städel Museum hat sich für die kleinteiligen und komplexen Recherchen mit zahlreichen Wissenschaftlern und Einrichtungen vernetzt. Die Gründung des Zentrums für Kulturgutverluste Anfang des letzten Jahres war ebenfalls ein wichtiger kulturpolitischer Schritt zur Ausweitung und Stärkung der Provenienzforschung. Seit Mai 2015 läuft ein zunächst durch die ehemalige Arbeitsstelle für Provenienzforschung und nun durch das Deutsche Zentrum für Kulturgutverluste gefördertes Projekt zur Erschließung der Bestände der Skulpturensammlung im Liebieghaus, für das die Provenienzforscherin Anna Heckötter gewonnen werden konnte.

 

Die Autorin Julia Kretzschmann ist studentische Aushilfe in der Presse- und Öffentlichkeitsabteilung. Durch die Beschäftigung mit Frau Schmeissers Arbeit hat sie zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen, denn sie wollte sowieso auch sich selbst ein genaueres Bild von der wichtigen Arbeit einer Provenienzforscherin machen.

 

 

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Von Siegern und Verlierern – Baselitz hinterfragt unser Helden-Bild

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August 2016, SpitzensportlerInnen triumphieren bei Olympia in Rio de Janeiro. Es sind Helden unserer Zeit, medial inszeniert. Vor 50 Jahren schuf Georg Baselitz ebenfalls Bilder von „Helden“ – die so gar nicht danach aussehen. Wie widersprüchlich Helden sein können, davon handelt unsere aktuelle Ausstellung. 

 

Georg Baselitz (*1938), Die großen Freunde, 1965, Öl auf Leinwand, 250 x 300 cm, Museum Ludwig, Köln, © Georg Baselitz 2016, Foto: Frank Oleski, Köln

Georg Baselitz (*1938), Die großen Freunde, 1965, Öl auf Leinwand, 250 x 300 cm, Museum Ludwig, Köln, © Georg Baselitz 2016, Foto: Frank Oleski, Köln

 

Erst Jahre nach ihrer Entstehung erhielt Baselitz‘ zentraler Bilderzyklus seinen kraftvollen Titel: „Die Helden“, oder auch: „Neue Typen“. 1965/66, in kürzester Zeit also, schuf der junge Künstler mit rund 60 Gemälden und 130 Zeichnungen unterschiedliche Ausführungen des immer selben Motivs. Die menschliche Gestalt, bildmittig und in kraftvollen Pinselstrichen dargestellt, stand im Zentrum dieser intensiven Schaffenszeit.

Auch Baselitz selbst hatte von Anfang an einzelne seiner Gemälde und Zeichnungen mit „Der Held“ oder „Der neue Typ“ betitelt. Die Körper dieser „Helden“ dominieren die Bildkompositionen, aber ein machtvoller, ein heldenhafter Auftritt sieht anders aus. Abgebildet sind keine kraftstrotzenden, mutig dreinblickenden Frauen und Männer. Stattdessen: versehrte Gestalten mit zerrissener Kleidung und unsicherem Stand. Taumelnd – oft halbnackt und mit entblößtem Genital – bewegen sie sich durch die Bildräume, Blut tropft aus offenen Wunden. Baselitz erzählt uns dazu keine Geschichte, und schon gar keine Heldengeschichte. Vielmehr scheinen die Figuren verloren, vom Geschehen losgelöst, in nur rudimentär (be-)greifbaren Landschaften zu stehen.

Was ist ein Held?

Aber was verstehen wir unter einer Heldin, einem Helden? Eine mutige Person, die sich durch besondere Talente oder Überzeugungen ausgezeichnet, die sich mit List und Tat für etwas Größeres, ein allgemeines Wohl einsetzt. Die griechische und römische Mythologie ist voller solcher Heroen, man denke allein an Herkules oder Odysseus. Aber auch das Christentum kennt sie, Figuren wie Jaenne d’Arc, die für ihren Glauben einstehen – und mit ihrem Leben bezahlen. Die Liste kann beliebig fortgeführt werden, hinein in die Geschichte, die Literatur, aber auch in unsere Zeit, hin zum populären Kino, Comic oder Sport.

 

Jan Muller, Adriaen de Vries, Herkules tötet die Hydra (Die Bronzestatue auf dem Augsburger Brunnen), 1602, Kaltnadel, Kupferstich, Städel Museum

Jan Muller, Adriaen de Vries, Herkules tötet die Hydra (Die Bronzestatue auf dem Augsburger Brunnen), 1602, Kaltnadel, Kupferstich, Städel Museum

 

Helden beziehungsweise immer auch unsere Vorstellungen von ihnen sind stets beeinflusst durch die gesellschaftlichen, politischen und religiösen Rahmenbedingungen – und den damit verknüpften Werten. Es sind Figuren, deren Handeln bewertet wird, auch noch Jahre nach ihrer realen oder fiktiven, überlieferten oder vermeintlichen Existenz. Gerade aufgrund ihres generationenüberfassenden Einflusses werden sie bisweilen zu einem späteren Zeitpunkt wieder kritisch bedacht, ihr Status und öffentliches Bild hinterfragt. Beispielsweise finden wir heute keine Gründe mehr, die (Kriegs-)Helden der Zeit des Nationalsozialismus als solche anzuerkennen. Sie wurden als Kriegsverbrecher und Mörder angeklagt und verurteilt.

 

Georg Baselitz (*1938), Versperrter Maler, 1965, Öl auf Leinwand, 162 x 130 cm, MKM Museum Küppersmühle für Moderne Kunst, Duisburg, Sammlung Ströher, © Georg Baselitz 2016, Foto: Archiv Sammlung Ströher

Georg Baselitz (*1938), Versperrter Maler, 1965, Öl auf Leinwand, 162 x 130 cm, MKM Museum Küppersmühle für Moderne Kunst, Duisburg, Sammlung Ströher, © Georg Baselitz 2016, Foto: Archiv Sammlung Ströher

 

Gesellschaftliche und politische Umstürze schaffen neue Helden

Baselitz‘ Helden entstanden in einer Zeit, in der die Erinnerung an eben jene Kriegs-„Helden“ noch präsent war, in Deutschland hatte die Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit, entgegen zahlreicher Widerstände, gerade erst begonnen. 1963 eröffnete in Frankfurt am Main der erste Auschwitz-Prozess, im gleichen Jahr erhielt die Bundeszentrale für politische Bildung ihren bis heute bestehenden Namen. Nicht nur die Spitzen des nationalsozialistischen Regimes wurden angeklagt, auch die gesamtgesellschaftlichen Verflechtungen und Verantwortlichkeiten wurden erstmals öffentlich thematisiert.

Baselitz, 1938 bei Dresden geboren, hatte Nationalsozialismus und Krieg, aber auch Nachkriegszeit, Wiederaufbau und Wirtschaftswunder miterlebt. Die politischen und gesellschaftlichen Umstürze zogen auch einen Wandel der Werte und Bewertungen ihrer Helden mit sich. Der tapfere, siegreiche Soldat des nationalsozialistischen Weltbildes wurde in der DDR durch den „Helden der Arbeit“ ersetzt, und in der BRD von den Hollywood-„Helden“ abgelöst. In seinen Bildern nähert sich Baselitz weder dem einen noch dem anderen an (auch wenn seine „Typen“ der staatsgewollten Typisierung in der DDR wohl näher stehen als dem propagierten Individualismus der Bundesrepublik).

Die Gemälde und Zeichnungen Georg Baselitz’ zeigen keine unantastbaren, entrückten Gestalten im Moment ihrer heroischen Tat, es sind vielmehr gebrochene, fragende Helden – unserer (nachträglichen) Kritik ausgesetzt. Aber auch der Betrachter steht, angesichts ihrer Präsenz, unsicher vor ihnen. Es ist ein Ringen beider – Abgebildeter wie Betrachtender – um Haltung.

 

Der Autor Lukas Engert hat als kuratorischer Assistent an der Baselitz-Ausstellung mitgewirkt. Die Werkserie hat auch seine Heldenbilder ins Wanken gebracht.

 

Georg_Baselitz_DieHelden_Freunde1965_Artikel

Wer war Lotte Laserstein?

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Lasersteins Werk gehört zu den großen Wiederentdeckungen der vergangenen Jahre. Das Städel hat bereits zwei ihrer Porträts erworben und zeigt nun eine große Ausstellung. Warum war Laserstein überhaupt in Vergessenheit geraten?

Elena Schroll: Lotte Laserstein gehört zu einer Generation von jüngeren Künstlerinnen und Künstlern, deren Karriere in der Weimarer Zeit gerade erst begonnen hatte. Sie war ein Rising Star, aber längst nicht auf ihrem Zenit angekommen. Ihre Werke waren noch nicht in die Museen eingezogen, als die Nationalsozialisten sie zur Flucht zwangen. Hinzu kommt, dass die Nachkriegsforschung vor allem die künstlerischen Positionen rehabilitierte, die in den Ausstellungen „Entartete Kunst“ diffamiert worden waren. Dazu gehörte Lasersteins Werk nicht.

Lotte Laserstein in der Sammlung des Städel Museums: Russisches Mädchen mit Puderdose, 1928, Öl auf Holz, 31,7 x 40 cm, und Junge mit Kasper-Puppe (Wolfgang Karger), 1933, Öl auf Holz, 46 x 38 cm, beide © VG Bild-Kunst, Bonn 2018, Foto: Städel Museum

Alexander Eiling: Als figurativ arbeitende Künstlerin war ihr Werk nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr gefragt. Die vorherrschende Kunstrichtung in Westeuropa und den USA war die abstrakte Kunst, die ein Gegenbild zum Sozialistischen Realismus des Ostens liefern sollte. Laserstein erfand ihren Stil nach dem Krieg jedoch nicht neu. In ihrer Kunst stand weiterhin der Mensch im Mittelpunkt, sie wollte nicht in die Abstraktion gehen.

Die Kuratoren der Ausstellung: Elena Schroll und Alexander Eiling

Also passte Lotte Laserstein mit ihrer realistischen Malerei nicht so recht ins gewünschte Bild?

AE: Lasersteins Kunst orientiert sich deutlich am Realismus des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, an Menzel, Leibl, Schuch oder Trübner. Diese Kunstrichtung hatte an den deutschen Akademien ein langes Nachleben, während die Historiker meist in einer Abfolge von Avantgarden denken. Diese passen besser in eine fortschritts- und abstraktionsfixierte Lesart. Erst mit mehr Abstand erkennen wir, dass das Bild der Kunstlandschaft der 1920er- und 30er-Jahre differenzierter ist. Laserstein ist nicht die große Avantgardistin. Sie steht für eine konservative Moderne, die in ihrer Zeit sehr geschätzt wurde – und seit einigen Jahren wieder geschätzt wird.

Ausstellungsansicht „Lotte Laserstein. Von Angesicht zu Angesicht“, Foto: Städel Museum
Ausstellungsansicht „Lotte Laserstein. Von Angesicht zu Angesicht“, Foto: Städel Museum
Ausstellungsansicht „Lotte Laserstein. Von Angesicht zu Angesicht“, Foto: Städel Museum
Ausstellungsansicht „Lotte Laserstein. Von Angesicht zu Angesicht“, Foto: Städel Museum
Ausstellungsansicht „Lotte Laserstein. Von Angesicht zu Angesicht“, Foto: Städel Museum
Kurator Alexander Eiling in der Ausstellung
Kuratorin Elena Schroll in der Ausstellung

Lässt sich das neue Interesse auch damit erklären, dass Lasersteins Porträts heute sehr zeitgemäß wirken? Vor allem die Frauen in ihren Gemälden könnten auch heute in Berlin oder Frankfurt auf der Straße rumlaufen.

ES: Laserstein stellt ein Thema in den Mittelpunkt ihres Werkes, das sehr modern ist und seinerzeit heiß diskutiert wurde: die Neue Frau – sportlich, kurzer Haarschnitt, selbstbewusst. Es sind Frauen, die sich für Mode und Kosmetik interessieren, arbeiten und in Männerdomänen vordringen. Damit können sich heute viele identifizieren. Genauso inspirierend ist auch ihre eigene Biografie: Laserstein hat sich eine beachtliche Karriere aufgebaut. Sie ist in dieser Hinsicht eine absolute Strategin, die sowohl künstlerisch als auch im Marketing ihrer Werke eine hohe Professionalität an den Tag legte.

Lotte Laserstein, Selbstporträt im Atelier Friedrichsruher Straße, um 1927, Öl auf Leinwand, 32 x 42 cm, Leihgabe aus Privatbesitz, Berlinische Galerie – Landesmuseum für Moderne Kunst, Fotografie und Architektur, Foto: Kai-Annett Becker/Berlinische Galerie, © VG Bild-Kunst, Bonn 2018

Wie hat sie sich ihre Karriere aufgebaut?

ES: Sie hat sich zunächst ganz traditionell akademisch ausbilden lassen, worauf sie ausgesprochen stolz war. Man muss bedenken: Künstlerinnen hatten ganz andere Ausgangsbedingungen als ihre männlichen Kollegen. Ihnen war bis in die frühen Jahre der Weimarer Republik untersagt, an den Kunstakademien zu studieren. Nach dem Ersten Weltkrieg loteten Frauen ihre Rolle in der Gesellschaft insgesamt neu aus und erkämpften sich neue Freiheiten – auch den Zugang zu Ausbildungsmöglichkeiten.

Lotte Laserstein vor dem Gemälde „Abend über Potsdam“, fotografiert von Wanda von Debschitz-Kunowski, undatiert, Berlinische Galerie – Landesmuseum für Moderne Kunst, Fotografie und Architektur, Foto: Anja Elisabeth Witte / Berlinische Galerie

Laserstein ging ihre Karriere mit einem unglaublichen Arbeitsethos und viel Ernsthaftigkeit an. Sie war keine Bohemienne, kein Partygirl, das sich treiben ließ. Nach ihrem Abschluss eröffnete sie eine private Malschule und hatte damit die finanzielle Sicherheit, als junge, noch unbekannte Malerin ihre Karriere voranzutreiben. Schnell beteiligte sie sich an Wettbewerben und publizierte ihre Gemälde in Modemagazinen, um ihren Namen auch über Berlin hinaus bekannt zu machen. Sie engagierte sich in Künstlerinnenvereinen und schuf sich dadurch ein breites Netzwerk, das ihr Ausstellungs- und Verkaufsmöglichkeiten bot. Sie hat sogar eine Presseagentur beauftragt, Rezensionen von ihr zu sammeln. So wusste sie ganz genau über die Meinungen der Kritiker Bescheid und baute gleichzeitig eine Form des künstlerischen Nachlasses auf.

AE: Diese Selbstvermarktung spiegelt sich auch in ihren Werken wider. Sie setzt sich als Schöpferin ihrer Werke mit ins Bild, erscheint im Hintergrund an der Staffelei sitzend oder stehend mit Malerkittel und Palette in der Hand.  Damit zitiert sie Darstellungstypen, die schon in der Renaissance, etwa bei Dürer, verwendet wurden. Man spürt förmlich Lasersteins Faszination für die großen Meister der europäischen Malerei, für Tizian, Giorgione, Leonardo oder die niederländische Genremalerei des 17. Jahrhunderts.

Lotte Laserstein, In meinem Atelier, 1928, Öl auf Holz, 46 × 73 cm, Privatbesitz © VG Bild-Kunst, Bonn 2018, Foto: Lotte-Laserstein Archiv Krausse, Berlin

Das klingt nach dem Beginn einer respektablen Künstlerinnen-Laufbahn. Wie ging es für Laserstein unter dem Nazi-Regime weiter?

ES: Für sie persönlich hat sich die Situation schnell zugespitzt. Laserstein war zwar christlich getauft, hatte aber jüdische Vorfahren. Nach der Machtergreifung der Nazis war schnell klar, dass sie in der braunen Ideologie als Jüdin angesehen wurde. Sie musste ihre Malschule schließen und verlor Ausstellungs- und Verkaufsmöglichkeiten. Ihr wurde immer mehr der Boden unter den Füßen weggezogen. 1937 floh sie nach Schweden und konnte damit ihr Leben und einen großen Teil ihrer Werke retten. Allerdings musste sie auch wieder ganz von vorne anfangen, sich in dem fremden Land einfinden, die Sprache lernen und ihre Karriere erneut mühsam aufbauen.

War es auch das Ende ihrer Karriere? Die Frankfurter Ausstellung konzentriert sich auf die 1920er- und 30er-Jahre, bevor Laserstein ins Exil ging.

AE: In den Berliner Jahren hat Laserstein ihre überzeugendsten Werke geschaffen. Die Porträts haben eine bestechende psychologische Tiefe; sie gehen einem nicht mehr aus dem Kopf. Die Malerin war in diesen Jahren auch am Puls der Zeit: In Berlin war die Konkurrenz groß, dort musste sie sich behaupten. Wir sollten uns heute aber auch vor Augen führen, dass Lasersteins Karriere nie abgebrochen ist. Sie hat auch im Exil bis zu ihrem Tod viel produziert und war an Ausstellungen beteiligt. Nun war Schweden in den 1950ern nicht vergleichbar mit dem Berlin der 1920er: Das Land war sehr konservativ und Laserstein passte sich dieser Umgebung an. Sie malte Auftragsporträts, Bauernkinder und Blumenstillleben, während Jackson Pollock in New York an seinen Drip Paintings arbeitete. So ist sie über die Grenzen von Schweden hinaus in Vergessenheit geraten. Dabei hat sie auch in ihrer zweiten Heimat das erreicht, was sie immer wollte: von ihrer zu Kunst leben. Insofern ist ihre Geschichte eine Erfolgsgeschichte.

Was können wir heute von dieser Wiederentdeckung lernen?

ES: Lasersteins Kunst führt uns unser eigenes Schubladendenken vor Augen, denn sie passt in so vieler Weise in keine hinein: weder zur Neuen Sachlichkeit, noch zur Abstraktion. Sie zeigt zwar moderne Städterinnen, aber nicht die Vergnügungsindustrie und Feierkultur, für die die Goldenen Zwanziger bekannt sind. Gleichzeitig sieht man bei ihr aber auch nicht die Schattenseiten der Zeit, die sozialen Abgründe und politischen Spannungen. Da ist nichts Subversives oder offensichtlich Zeitkritisches, sie fängt viel mehr ganz subtil ein Stimmungsbild der Zwischenkriegsgesellschaft ein.

AE: Wir haben im Museum ja die Aufgabe, das scheinbar so gut ausgeleuchtete Mosaik der Moderne um ein paar Steinchen zu bereichern. Die Hauptwege der Kunstgeschichte sind hinlänglich bekannt, aber wo ist unser blinder Fleck? Wo haben wir noch nicht so genau hingeschaut? Bei Lasersteins Werk, besonders dem der Berliner Jahre, lohnt unbedingt ein neuer Blick!

Lotte Laserstein, Russisches Mädchen, um 1928, Öl auf Holz, 32 × 23 cm, Sammlung Linda Sutton und Roger Cooper, London, Foto: Städel Museum © VG Bild-Kunst, Bonn 2018

Aus den Augen verloren

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Botticelli, Rubens, Monet, van Gogh, Kirchner, Beckmann, Dix – die Liste der großen Malernamen im Städel Museum lässt sich mühelos fortführen. Es sind absolute Publikumsmagneten, jeder so bekannt, dass es nicht einmal der Vornamen bedarf. Aber wie sieht es eigentlich bei ihren Kolleginnen aus? Ohne Lotte würden wir unsere Laserstein-Ausstellung kaum bewerben können.

Die Künstlerin ist der breiten Masse nicht geläufig, die Mehrzahl ihrer Arbeiten befindet sich in Privatbesitz. Das Städel ist eine der wenigen öffentlichen Sammlungen, in denen Lotte Laserstein vertreten ist. Da man auch in den großen Überblickspublikationen zur Malerei des 20. Jahrhunderts vergebens nach ihr sucht, ist sie selbst unter vielen Kunsthistorikern noch ein Insidertipp. Dabei eroberte die Malerin in den 1920er-Jahren die Berliner Kunstwelt und entwickelte sich auch überregional zu einer angesehenen Porträtistin.

Lotte Laserstein in der Sammlung des Städel Museums: Russisches Mädchen mit Puderdose, 1928, Öl auf Holz, 31,7 x 40 cm, und Junge mit Kasper-Puppe (Wolfgang Karger), 1933, Öl auf Holz, 46 x 38 cm, beide © VG Bild-Kunst, Bonn 2018, Foto: Städel Museum

Nach ihrer Flucht vor den Nationalsozialisten 1937 ins schwedische Exil wurde Laserstein hierzulande zur Unbekannten. Damit teilt sie das Schicksal vieler ihrer Zeitgenossen, die wir heute als „verschollene Generation“ bezeichnen. Auffällig ist, dass vor allem weibliche Positionen in Vergessenheit geraten sind und das obwohl die Emanzipationsbewegung in der Weimarer Republik enorm an Fahrt gewonnen hatte. Frauen hatten sich nach dem Ersten Weltkrieg endlich Zugang zu den Kunstakademien erkämpft und waren in die Arbeitswelt vorgedrungen. Bekannt ist davon heute kaum noch eine.

Ausstellungsansicht „Lotte Laserstein. Von Angesicht zu Angesicht“, Foto: Städel Museum © VG Bild-Kunst, Bonn 2018

Wo sind die Frauen?

 In den vergangenen Jahren machte es sich eine Reihe von Ausstellungen zur Aufgabe, das männlich dominierte Bild der Kunst der Moderne zu revidieren. So wurden vor Kurzem Anita Rée in der Hamburger Kunsthalle und Jeanne Mammen in der Berlinischen Galerie gewürdigt. Die Frage nach weiblichen Vorbildern scheint förmlich in der Luft zu liegen. Das zeigt auch die jüngste Netzdebatte, die nach einem Artikel in der Zeit losgetreten wurde. Thomas Kerstan hatte darin eine Liste an Persönlichkeiten aus Wissenschaft, Politik, Literatur und Kunst zusammengestellt, die aus seiner Sicht zur Allgemeinbildung gehören. Das Verzeichnis war vor allem: weiß und männlich. Protest gegen diesen Herren-Kanon lieferte eine Gruppe von Frauen um die Schriftstellerin Sybille Berg. Unter #diekanon wird seither für einen Bildungskanon plädiert, der ein ausgewogeneres Geschlechterverhältnis hat.

Lotte Laserstein, Selbstporträt im Atelier Friedrichsruher Straße, um 1927, Öl auf Leinwand, Leihgabe aus Privatbesitz, Berlinische Galerie – Landesmuseum für Moderne Kunst, Fotografie und Architektur, Foto: Kai-Annett Becker / Berlinische Galerie, © VG Bild-Kunst, Bonn 2018

Dass eine Künstlerin wie Lotte Laserstein von unserem Radar verschwinden konnte, hat viele individuelle aber auch zeitgeschichtliche Gründe. Der Machtantritt der Nationalsozialisten bedeutete für die Malerin einen herben Bruch in ihrer Biografie. Obwohl christlich getauft, galt Laserstein in der Ideologie der Nazis mit drei jüdischen Großeltern selbst als Jüdin. Nach und nach wurde ihr die Perspektive für eine künstlerische Zukunft in Deutschland genommen. Die Flucht nach Schweden war für Laserstein Glück und Pech zugleich. Sie brachte sich in lebensrettende Sicherheit. Und es gelang ihr in der neuen Heimat Fuß zu fassen und weiter von der Kunst zu leben. Der Neuanfang in Schweden stellte aber auch einen gehörigen Kraftakt dar. Laserstein kannte die Sprache nicht und hatte kaum Kontakte. Ihre Familie musste sie in Deutschland zurücklassen, die Mutter starb in einem Frauen-KZ, die Schwester überlebte den Krieg unter traumatischen Bedingungen im Berliner Untergrund.

Nach dem Krieg fiel Laserstein in Deutschland aus dem öffentlichen Blickfeld. In den Museumssammlungen war sie noch nicht angekommen und da sie einen Großteil ihrer Werke aus Berlin retten konnte, waren ihre Arbeiten auch auf dem Kunstmarkt nicht präsent. Noch dazu hatte die Künstlerin keinen Galeristen, der ihre Werke vertrieb.

Auch ihre realistische Malweise traf nicht den Nerv der Zeit, denn nach 1945 wurden gegenständliche Positionen lange zugunsten abstrakter Formensprachen vernachlässigt. Die junge Bundesrepublik wollte ein strategisches Gegenbild zur nationalsozialistischen Kunstästhetik, aber auch zum Sozialistischen Realismus der Sowjetunion zeichnen.

Erst in den späten 1980er-Jahren brachte eine Ausstellung in den Londoner Galerien Agnews und Belgrave Lotte Laserstein international wieder in Erinnerung. In Deutschland wurde sie 2003 durch die Retrospektive Lotte Laserstein. Meine einzige Wirklichkeit wiederentdeckt, die Anna-Carola Krausse für Das Verborgene Museum kuratierte.

Bewegliche Museumssammlungen

Unsere Auffassung der Moderne wurde also maßgeblich in der Vergangenheit geformt. Zwar ist in den letzten Jahren zu beobachten, dass sich immer mehr Wissenschaftler und Museen neben den kanonisierten Positionen auch für die Kunst der verschollenen Generation interessieren und dabei auch Künstlerinnen stärker beachten, nichtsdestotrotz erwarten viele im Museum noch immer die großen Namen. Aber auch diese sind nicht gesetzt. Die Sammlung Kunst der Moderne umfasst im Städel Museum annähernd 5500 Werke, die über einen Zeitraum von mehreren Jahrzehnten Eingang in den Bestand gefunden haben. Nicht alle würden wir heute als Spitzenwerke kategorisieren, auch wenn sie einmal zu den Sammlungshighlights gehörten.

Die Auswahl ist gefärbt von den Direktoren und Sammlungsleitern, die sie verantworteten. Dies hatte schon der Bankier Johann Friedrich Städel erkannt, der mit seiner Stiftung den Grundstein für unsere Institution gelegt hat. In seinem Testament bestimmte er, dass seine etwa 500 Werke umfassende Sammlung in der Folgezeit zugunsten von „Besserem“ veräußert werden könne. Dies wurde auch bereitwillig beherzigt: Heute befinden sich nur noch 70 seiner Gemälde im Städel. Welche Kunst sich durchsetzt, hat immer mit dem Zeitgeschmack zu tun, mit politischen und gesellschaftlichen Bedingungen. Die Philosophie unseres Stiftungsvaters im Hinterkopf sollten wir immer mal wieder am tradierten Kanon rütteln und Künstlerinnen und Künstlern wie Lotte Laserstein die Türen öffnen. Auf der Liste von #dieKanon macht sich ihr Name neben denen von Hildegard von Bingen, Jane Goodall, Marie Curie und Michelle Obama jedenfalls sehr gut.

Anonym, Ohne Titel (Porträt Lotte Laserstein), Undatiert, Berlinische Galerie – Landesmuseum für Moderne Kunst, Fotografie und Architektur, Fotonachweis: Anja Elisabeth Witte/Berlinische Galerie

Düsterer Sommer

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„Auf kanariengelber Strandfläche stehen oder sitzen eine Reihe von Menschen in Badeanzügen. Sie füllen den Vordergrund. Dahinter das grüne Meer und ein weissbewölkter Himmel. In der Mitte macht ein Mann im blauen Bademantel einen Handstand … Vorne auf einem Badetuch ein Paar (er im Pyjama, sie nackend) unter einem Schirm … Die Farben des Bildes sind hell und leuchtend.“ Harmlos und sachlich liest sich der Eintrag im Inventarbuch des Städel Museums zu Max Beckmanns Gemälde Der Strand (Am Lido).

Menschen und ein Liebespaar, die sich heiter, ausgelassen und entspannt an einem Sommertag an einem italienischen Strand tummeln. Dargestellt ist auch Mathilde Beckmann, genannt Quappi, die Frau des Künstlers. Eine vermeintliche Idylle? Bei genauerem Hinsehen findet man in der unteren Bildmitte links, achtlos in den Sand geworfen, eine Ausgabe der faschistischen Zeitung Il Popolo di Roma.

Max Beckmann, Der Strand (Am Lido), 1927, Öl auf Leinwand, Verbleib unbekannt. Abgebildet in der Zeitschrift „Der Querschnitt 7“

Das halbbekleidete Liebespaar im Vordergrund, Beckmanns moderne Malweise, aber auch das satirische Detail, das den italienischen Faschismus kommentiert, machten das „Strandbild“ schon Ende der Zwanzigerjahre zu einem Skandal. Am 2. Juli 1937 wurde das umstrittene Gemälde von den Nazis „sichergestellt,“ um es in der Ausstellung „Entartete Kunst“ in München zu präsentieren.

Eintrag Inv.-Nr. 421 Max Beckmann, Der Strand (Am Lido), 1927, Inventarbuch des Städel Museums.

Die Ausstellung wanderte durch mehr als zehn Städte. Das Beckmann-Gemälde reiste mit: von München nach Berlin, Leipzig, Düsseldorf, Salzburg, Hamburg, Stettin, Weimar und Wien – und schließlich nach Frankfurt: Vor genau 80 Jahren, im Sommer 1939, zog die Femeausstellung „Entartete Kunst“ in die Bockenheimer Landstrasse 8. In Frankfurt, wo das Gemälde entstanden war und zum ersten Mal öffentlich gezeigt wurde, wurde es vermutlich auch das letzte Mal gesehen, denn es gilt bis heute als verschollen.

Das großformatige Beckmann-Bild, fast zwei mal drei Meter, war ein Auftragswerk der Stadt Frankfurt gewesen. Es war ursprünglich für ein öffentliches Gebäude geplant, das „Volksbildungsheim.“ In dieser kommunalen Einrichtung wurden in den Jahren der Weimarer Republik unter anderem Konzerte und Theateraufführungen organisiert. Die Finanzierung des Gemäldes kam daher von einer städtischen Stelle, der „Frankfurter Künstlerhilfe,“ zu deren Aufgaben auch die Förderung der Frankfurter Kunst durch den Ankauf besonders qualitätsvoller Arbeiten hiesiger Künstler zählte. 10.000 Reichsmark hatte man Beckmann gezahlt, der seit 1915 in Frankfurt lebte und seit 1925 an der städtischen Kunstgewerbeschule Malerei unterrichtete.

Das Gemälde – „höchst unsittlich“

„Frankfurt 1927: Der Strand. Begonnen 28. September 1926, beendet 6. April 1927 abends ½ 10 Städel“ hatte Beckmann in seinen eigenen Aufzeichnungen notiert. Die Leitung des Volksbildungsheims lehnte das Gemälde jedoch ab. Stattdessen überließ die Stadt das Werk dem Städel Museum, was in einigen Kreisen heftige Reaktionen provozierte: Eine religiöse Organisation bezeichnete es als „höchst unsittlich“ und verwies auf Paragraph 184 des Strafgesetzbuches, der die Verbreitung unzüchtiger Abbildungen untersagte. Der Direktor des Städel Museums, Georg Swarzenski, erhielt sogar ein Schreiben vom Oberstaatsanwalt.

Max Beckmann, Bildnis Georg Swarzenski. 1921, Lithografie, Städel Museum, Frankfurt am Main, © VG Bild-Kunst, Bonn 2019

Swarzenski war mit Max Beckmann eng befreundet und stand hinter der Erwerbung des Gemäldes. Er verfasste ein Gutachten, in dem er den Vorwurf der Anstößigkeit entschieden zurückwies. Ein Jahr später schickte er das Gemälde – nichtsdestotrotz – auf die Biennale nach Venedig. Und wieder erhitzten sich die Gemüter: In Italien sah man in dem Gemälde einen Angriff auf den Faschismus, in Deutschland erhoben die völkisch-national Gesinnten ihre Stimme gegen die Ausstellung des Gemäldes im deutschen Pavillon.

Keine drei Jahre später sollten sich mit der Machtübernahme der Nazis die Vorzeichen für die einst liberal und progressiv bestimmte Frankfurter Kunst- und Kulturpolitik drastisch ändern: Der neue Oberbürgermeister der Stadt, Friedrich Krebs, war NSDAP Mitglied und Ortstgruppenleiter des Kampfbundes für Kultur, einer radikalen Vereinigung, die „undeutsche Kunst“ anprangerte. Schon im April 1933 entließen die Nationalsozialisten Swarzenski aufgrund seiner jüdischen Herkunft aus seinem Amt als Generaldirektor der Städtischen Museen. Die expressionistische Kunst des Städel wanderte ins Depot. Beckmann verlor seine Professur an der Kunstgewerbeschule. Das „Volksbildungsheim“ war nun fest in den Händen der NS-Propagandamaschine „Deutsches Volksbildungswerk,“ einer Abteilung der NS-Gemeinschaft „Kraft durch Freude.“ Bereits 1936 zeigte man in Frankfurt dort eine Vorläufer-Ausstellung „entarteter Kunst“ bestückt mit Werken von unter anderem Otto Dix und George Grosz.

Ausstellung „Entartete Kunst“

Im Juli 1937 erschien im Städel Museum eine Kommission des Reichspropagandaministeriums, um Werke für die in München geplante Ausstellung „Entartete Kunst“ auszuwählen. 25 Werke wurden abgezogen. In der Ausstellung selbst, die in den Münchener Hofgarten Arkaden stattfand, waren fünfzehn Gemälde aus dem Städel vertreten. Im Haus der Deutschen Kunst gegenüber zeigte man hingegen was unter nicht-„entarteter Kunst“ zu verstehen war.

Postkarte Heinrich Hoffmann, Ausstellung „Entartete Kunst“ (mit Max Beckmanns Der Strand), Archiv Haus der Kunst, München.

Zehn Gemälde von Max Beckmann – auch das Strandbild – und zahllose Arbeiten auf Papier  fielen der Beschlagnahmeaktion „Entartete Kunst“ zum Opfer. Über 20.000 Werke wurden insgesamt aus den öffentlichen Museen entfernt, die durch ein nachträglich erlassenes Gesetz im Mai 1938 entschädigungslos enteignet worden waren.

Villa Bockenheimer Landstrasse 8, ca. 1900, Institut für Stadtgeschichte, Frankfurt am Main.

Als die Frankfurter Station im neuen Ausstellungshaus der Stadt in der Bockenheimer Landstrasse 8 im Juni 1939 eröffnet wurde, war Georg Swarzenski, Beckmanns Freund und Förderer, bereits in die USA geflohen, Beckmann selbst lebte im Exil in Amsterdam. Die Stadt Frankfurt hatte sich die Villa in der Bockenheimer Landstrasse 1937 aus ehemals jüdischem Besitz angeeignet: Seit 1917 hatte das Gebäude dem damals hochbetagten Kunstsammler und Mäzen Max von Goldschmidt-Rothschild gehört. Im ersten Stock befanden sich die Räume der Kunsthandlung Hugo Helbing. Ihr Inhaber Arthur Kaufmann musste nach dem Ankauf seine Galerie räumen. Die Villa wurde von der Stadt zu einem Kunstausstellungshaus im Sinne nationalsozialistischer Propaganda- und Weltanschauung umgebaut.

Angeblich 700 Exponate – mehrheitlich Arbeiten auf Papier – konnten in der Ausstellung „Entartete Kunst“ in Frankfurt besichtigt werden. Sie ging mit einer brutalen antisemitischen Hetzkampagne in der Presse einher. Bis heute unklar ist, wie viele Werke aus dem ehemaligen Besitz des Städel dort gezeigt wurden. Gesichert ist jedoch, dass das großformatige Gemälde Der Strand dort ausgestellt war.

Gebäude Ecke Taunusanlage/Bockenheimer Landstraße mit Wegweiser zur Ausstellung „Entartete Kunst,“ 1939, Sig. 1998/12900, Institut für Stadtgeschichte, Frankfurt am Main

Die Ausstellung, deren Eintritt für Erwachsene über 21 Jahren frei war (für Jugendliche war der Besuch aufgrund des „gefährdenden“ Inhalts untersagt), war von 10 bis 21 Uhr geöffnet. Viermal täglich fanden dort öffentliche Führungen statt. Einem Bericht der Frankfurter Zeitung vom 23. Juli 1939 zufolge verzeichnete die Ausstellung angeblich gigantische Besucherzahlen: rund 1800 Menschen sollen sich täglich durch die engen Räumlichkeiten gedrängt haben, in deren letztem Saal „entartete Musik“ zu hören war.

Der Gauleiter besucht die Ausstellung „Entartete Kunst“, Frankfurter Volksblatt Nr. 197, 23. Juli 1939

Das Ausstellungshaus in der Bockenheimer Landstrasse 8 wurde 1944 zerstört, seine unheilvolle Geschichte geriet in Vergessenheit. Dass an diesem Ort einmal die Ausstellung „Entartete Kunst“ Einzug gehalten hat, ist heute kaum noch bekannt. Und von dem schicksalhaften Hauptwerk der Ausstellung Der Strand (Am Lido) fehlt bis heute jede Spur.

Lost and Found

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Als vor fast 100 Jahren, im Mai 1921, der Neubau des Städel Museums eröffnet wurde, waren dort in einem der ersten Räume insgesamt drei Landschaften von Joseph Anton Koch zu sehen: Das Dankopfer Noahs, Der Raub des Hylas und Landschaft mit dem Propheten Bileam und seiner Eselin. Die beiden letzteren Werke hatte das Städel im Jahr 1832 direkt vom Künstler in Rom erworben. Im Atelier Kochs entdeckt hatte sie dort der Diplomat und Kunstsammler August Kestner (1777–1853) aus Hannover. Sein Bruder Theodor war damals Gründungsmitglied des für den Aufbau und die Verwaltung des Städel verantwortlichen Gremiums. Gemeinsam ebneten sie den Weg für die außergewöhnliche Doppelerwerbung der beiden Landschaften.

Im Winter 1832 nahm August Kestner, Jurist, Diplomat und Kunstsammler, aus Rom Kontakt zu seinem Bruder Theodor auf. Er überzeugte ihn davon, der Administration des jungen Städelschen Kunstinstitutes den Ankauf von zwei Werken des Malers Joseph Anton Koch zu unterbreiten.
August schildert, dass der „alte Koch“ in finanzielle Bedrängnis geraten sei und man einem solchen malerischen Genie durch einen Ankauf beistehen müsse. „Er malt immer drauff los, weil sein Genie in dazu zwingt; aber da heut zu Tage Niemand etwas kauft, […] so bleibt seine Werkstatt gefüllt, u[nd], ohne alle Bestellungen, fängt er an in der That zu darben mit Frau und drey Kindern […]“
Der ursprünglich aus Tirol stammende Joseph Anton Koch (1768–1839) lebte seit 1795 in Rom und war dort das Haupt der deutschen Künstlerkolonie. Dort lernte ihn auch August Kestner auf einer seiner Italienreisen kennen und unterstützte ihn.
Theodor Kestner, der seit 1817 Mitglied der fünfköpfigen Administration war, erreichte mit Vorlage der euphorischen Briefe seines Bruders die Zustimmung der anderen Mitglieder zum Kauf zweier Bilder von Koch.
August, der bei diesem Ankauf nicht nur als Vermittler, sondern auch als Berater agierte, schlug letztlich den Ankauf der Bilder Landschaft mit dem Propheten Bileam und seiner Eselin und Landschaft mit dem Raub des Hylas vor und überzeugte die Administration.
Diese Briefe aus dem Jahr 1832 gehören zu den ältesten und wertvollen Dokumenten des Städel Archivs. Das Städelsche Kunstinstitut wurde 1815 durch das Testament Johann Friedrich Städels ins Leben gerufen.

Der neue Flügel des Museums beherbergte die moderne und zeitgenössische Gemäldesammlung des 19. und 20. Jahrhunderts. Auch die beiden Landschaften waren ursprünglich einmal zeitgenössische Erwerbungen gewesen, denn sie gelangten zu Lebzeiten Kochs in die junge Sammlung des Museums. Die in leuchtenden Farben gemalte Landschaft mit dem Propheten Bileam hing damals an einer schwarzbespannten Wand im östlichen Seitenkabinett des Neubaus und stellte zusammen mit den „Romantikern und Nazarenern“ den Auftakt der modernen Sammlung dar.

Joseph Anton Koch, Landschaft mit dem Propheten Bileam und seiner Eselin, ca. 1832, Öl auf Leinwand, Städel Museum, Frankfurt am Main

Die Städel Sammlung  im Krieg

Bis kurz vor Ausbruch des Krieges war das Gemälde prominent in der Schausammlung des neuen Flügels zu sehen. Im Zuge der Mobilmachung wurden zunächst die „unentbehrlichsten und wertvollsten“ Werke des Museums nach Oberstedten im Taunus ausgelagert, die restlichen Gemälde –  so auch die Landschaft mit dem Propheten Bileam – wanderten in die entsprechend für den Luftschutz vorbereiteten Kellerräume des Museums. Am 31. August 1939 notierte Alfred Wolters, der Direktor der Städtischen Galerie, dass die Depoträume im Städel  „durch sandgefüllte Kisten gesichert“ wurden.

Ab da war das Museum nur noch für laufende Ausstellungen geöffnet. Die Schausammlung selbst war seit ihrer kriegsbedingten Einlagerung für die Öffentlichkeit nicht mehr zugänglich. Im Juni 1940 ereignete sich der erste Luftangriff auf Frankfurt. Die Stadt verstärkte bald die Luftschutzmaßnahmen. Fast 250 Gemälde, darunter auch die Landschaft mit dem Propheten Bileam, wurden im Juni 1941 in Stahlkammern der ehemaligen Darmstädter Bank verbracht.

Doch in den Panzerkammern der Bank wurde das Gemälde nur vorübergehend gelagert, denn mit dem einsetzenden Frost im Winter 1941 war die Luftfeuchtigkeit in den Räumen so stark gesunken, dass man sogar eine Rückverbringung in die Räume des Städel in Erwägung zog, um die Werke vor weiteren Schäden zu schützen.

„Das Gebäude des Städelschen Kunstinstituts ist sozusagen vollständig geräumt“

Erst im September 1942 wurde die Landschaft mit dem Propheten Bileam in den Bunkerkomplex des Führerhauptquartiers Ziegenberg im Taunus transportiert, ein monumentaler Sicherheitsbau. Die Schlüssel zu den Bunkerräumen der Wehrmacht, in denen der Großteil der Bestände des Städel nun ausgelagert wurde, waren in einem versiegelten Umschlag der Gebäudeverwaltung übergeben worden, ein weiterer wurde in einem feuerfesten Schrank des Museums verwahrt. In einem Rückblick auf das Jahr 1942 resümierte der Direktor der Städtischen Galerie lapidar den Ausnahmezustand, der sich heute unserer Vorstellungskraft entzieht: „Das vergangene Jahr stand ganz und gar im Zeichen des Luftschutzes … Das Gebäude des Städelschen Kunstinstituts ist nunmehr sozusagen vollständig geräumt. … Die restlose Räumung des Städelschen Kunstinstituts wurde besonders dringend, da auf seinem Dach allen Einspruch zum Trotz Flakgeschütze aufgestellt werden.“ Im Oktober 1943 nahmen die Luftangriffe der Alliierten auf Frankfurt zu und zum Jahresende wurde das Museum dann schließlich auch für laufende Ausstellungen geschlossen. Am 29. Januar 1944 wurde das Städel-Gebäude durch einen auf die Flakstellungen zielenden Bombenangriff stark zerstört.

Historische Aufnahme des zerstörten Städel Museums, Institut für Stadtgeschichte, Frankfurt am Main

Die Spur verliert sich

Schließlich musste im Sommer 1944 der Auslagerungsort Ziegenberg in kürzester Zeit aufgelöst werden. Am 20. Juli 1944 erreichte das Museum die dramatische Nachricht, Ziegenberg müsse „sofort geräumt“ werden, „da es seiner ursprünglichen militärischen Verwendung wieder zugeführt“ werde. Das bereits durch Einberufung vieler Mitarbeiter in den Kriegsdienst stark dezimierte Personal des Museums musste den Auslagerungsort nun innerhalb von zwei Wochen restlos leeren. Nur eine Woche später ging die Landschaft mit dem Propheten Bileam mit einem der ersten Transporte von Ziegenberg im Taunus in das circa 100 Kilometer entfernte Amorbach im Odenwald, wo das Gemälde in einer ehemaligen Benediktinerabtei aus dem 18. Jahrhundert  untergebracht wurde – zusammen mit gut 400 anderen Gemälden. Das Gebäude wurde mit einem Schild des Oberkommandos der Wehrmacht versehen. Es enthielt den Hinweis, dass hier „wertvolles deutsches Kulturgut aufbewahrt“ sei. Die dort ausgelagerten Kunstwerke  konnten bis zum Ende des Krieges von Mitarbeitern des Städel nie mehr kontrolliert werden.

Liste (Auszug) der in Amorbach ausgelagerten Kunstwerke, Städel-Archiv, Frankfurt am Main

Als amerikanische Truppen im März 1945 den Main erreichten, waren bis dahin fast 75 Luftangriffe auf Frankfurt geflogen worden. Ende März 1945 protokollierte der Direktor der Städtischen Galerie im sogenannten Kriegstagebuch des Museums: „Die Brücken werden gesprengt … 6 Deutsche Soldaten, die im Keller und Grundstücke des Liebieghauses Schutz suchten, werden von Anthes, der allein den Dienst versieht, entwaffnet … Die ersten Panzer tauchen auf … Um 15 Uhr wird das Liebieghaus zum ersten Mal von Amerikanern durchsucht.“ Und etwas später der Eintrag: „8.4.-14.4. Wir bemühen uns um Off Limits für die Museumsgebäude und die Auslagerungsstellen.“

Historische Aufnahme des Konventsgebäudes in Amorbach, Ansicht mit Ortskern von Westen, © Bildarchiv Foto Marburg / Foto: unbekannt; Aufn.-Datum: 1940/1949 – Rechte vorbehalten

Es herrschte immer noch Krieg, als der Kustos des Historischen Museums, Dr. Albert Rapp, im April 1945 nach Amorbach reiste, um dort nach den Beständen der Frankfurter Museen zu schauen. Inzwischen waren dort amerikanische Besatzungstruppen eingetroffen. Er berichtete folgendes: „Dort fand ich das Schloss vom Militär belegt. Unsere Depoträume waren geöffnet und weitgehend geplündert worden … Gemälde waren beschädigt, mehrere von den leer dastehenden Keilrahmen abgeschnitten und verschwunden …“ Etwa 60 Gemälde konnte Rapp an einen sicheren Ort und in die Obhut der amerikanischen Militärregierung bringen – die Spur der Landschaft mit dem Propheten Bileam verliert sich hier.

Die Umlagerung dieser Gemälde nach Schloss Büdingen passierte unter der Aufsicht eines gewissen Lieutenant Sinclair Robinson. Es gelang ihm auf diesem Transport, sich insgesamt sechs Gemälde, darunter fünf aus dem Besitz des Städel anzueignen. Unter den von Robinson entwendeten Amorbacher Werken befand sich unter anderem auch die Freistunde im Amsterdamer Waisenhaus von  Max Liebermann. Der Fall Robinson ist unter der Bezeichnung The Büdingen Affair in die Geschichte eingegangen.

Max Liebermann, Freistunde im Amsterdamer Waisenhaus, 1881 – 1882, Öl auf Leinwand, erworben 1900, 1945 am Auslagerungsort abhandengekommen, wiedererworben 1964, Eigentum des Städelschen Museums-Vereins e.V.

Ungeklärt ist jedoch, was mit den restlichen Gemälden passierte, die vermutlich bereits im März 1945 am Auslagerungsort Amorbach unter bis dato ungeklärten Umständen verschwanden. Etwa drei Monate nachdem Rapp den Auslagerungsort besichtigt hatte – mittlerweile war der Krieg zu Ende – gelang es zwei Mitarbeitern des Städel schließlich, mit dem Fahrrad nach Amorbach zu fahren, um dort eine Bestandsaufnahme zu machen und das Depot für die Räumung vorzubereiten. Sie verzeichneten in einem Bericht den Verlust von mehr als zwanzig Gemälden, darunter auch die Landschaft mit dem Propheten Bileam.

Die Bestände, die nach der Sicherung der 60 Werke noch in Amorbach waren, wurden zu einem späteren Zeitpunkt dann  an den Central Collecting Point im Landesmuseum in Wiesbaden transportiert, einer Sammelstelle, die die Monuments Men, der amerikanische Kunstschutz, dort eingerichtet hatten. Der damalige Direktor des Städel, Ernst Holzinger, war als Chief German Expert in die Aktivitäten der Monuments Men eingebunden und half bei der Inventarisierung, Prüfung und Rückführung der Kunstwerke. Dem zuständigen amerikanischen Officer dort berichtete er im Januar 1946: „Amorbach, Archives!… the building was broken into after the American occupation.“ Über die dort abhanden gekommenen Gemälde des Städel schrieb er: „The American army is investigating the loss of six of them that were taken by an American lieutenant … No trace of the other paintings that are missing.“

Städel Direktor Ernst Holzinger, Central Collecting Point Wiesbaden, ca. 1947, National Archives, Washington, D.C.

Man begann daraufhin, nach den Kunstwerken zu fahnden: Bereits im August 1946 erstellte das Städel einen Katalog, in dem die verlorenen Gemälde abgebildet und dokumentiert wurden. Er wurde in einer Auflage von 800 gedruckt und an Museen und Polizeistationen sowie zahlreiche Kunsthistoriker und Kunsthändler verschickt.

Painting found

Mehr als 70 Jahre dauerte es, bis die Landschaft mit dem Propheten Bileam wieder aufgefunden wurde und ins Städel zurückkehren konnte: „Painting found?“ lautete die Betreffzeile der Email, die Anfang des Jahres 2018 beim Städel einging. Nach einer Recherche in der Datenbank lostart.de, in der das Museum seine vermissten Werke seit 2001 registriert hat, war eine amerikanische Privatbesitzerin und Kunsthistorikerin fündig geworden, die das Gemälde von ihrem Vater geerbt hatte. Sie hatte daraufhin das Museum kontaktiert. Dank ihrer großzügigen Geste, der Rückgabe des Gemäldes, ist es heute wieder neben seinem Pendant, Der Raub des Hylas, im ersten Raum des modernen Flügels zu bewundern.

In der Galerie der Kunst der Moderne hängen nun drei Gemälde von Joseph Anton Koch, ganz rechts die „Landschaft mit dem Propheten Bileam und seiner Eselin“


Die Zeichnungen der Zeit

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In den vergangenen zwei Jahren hast du aus 1800 Zeichnungen, alle entstanden im letzten Jahrhundert, etwa 100 für die aktuelle Ausstellung und einen Sammlungskatalog ausgewählt. Wie nähert man sich einem solchem Konvolut?

Man beginnt damit, sich alle Zeichnungen anzuschauen. Ich habe viel Zeit mit den Originalen verbracht, die im Tresor der Graphischen Sammlung chronologisch und nach Nationalitäten sortiert sind und in kleinen, großen und übergroßen Kisten und Mappen aufbewahrt werden. Glücklicherweise sind am Städel schon alle Zeichnungen durch ein Digitalisierungsprojekt in unserer Datenbank erfasst – das hat die Arbeit erleichtert. In einer ersten Runde habe ich mir zunächst einen groben Überblick verschafft, knapp 60 Künstler habe ich mir danach noch einmal genauer vorgenommen. Und in einer dritten Runde erfolgte die finale Auswahl in Abstimmung mit der Sammlungsleiterin, Regina Freyberger. Am Ende waren es 43 Künstler und rund 100 Meisterzeichnungen, die ich auch mit unseren Restauratorinnen genau untersucht habe. Gut 1 ½ Jahre habe ich zu all diesen Arbeiten geforscht, in Bibliotheken, Archiven und anderen Sammlungen recherchiert und Texte für den Bestandskatalog geschrieben. Der Katalog und die Ausstellung zeigen jetzt diese konzentrierte Auswahl. Der komplette Bestand unserer Zeichnungen ist im Studiensaal einsehbar und auf der Digitalen Sammlung veröffentlicht.

Kuratorin Jenny Graser in der Ausstellung „Große Realistik & Große Abstraktion“, Foto: Städel Museum – Norbert Miguletz

Die Graphische Sammlung des Städel umfasst insgesamt über 100.000 Grafiken, darunter circa 25.000 Zeichnungen. Inwieweit ist dieser Bestand aufgearbeitet?

Die Bearbeitung des Katalogs und die Ausstellung wurden von der Stiftung Gabriele Busch-Hauck gefördert. Seit mehreren Jahrzehnten unterstützt diese Stiftung die Graphische Sammlung maßgeblich bei der Erforschung ihrer Bestände. So wurden bereits die deutschen Zeichnungen vom späten Mittelalter bis zum Beginn des 20. Jahrhundert bearbeitet. Aktuell widmet sich eine Kollegin den niederländischen Zeichnungen des 18. Jahrhunderts und ein weiterer Kollege der Zeichnungssammlung unseres Museumsgründers Johann Friedrich Städel. So werden nach und nach einzelne Bestände der Graphischen Sammlung tiefer erschlossen.

Ausstellungsansicht "Große Realistik & Große Abstraktion", Foto: Städel Museum - Norbert Miguletz
Ausstellungsansicht "Große Realistik & Große Abstraktion", Foto: Städel Museum - Norbert Miguletz
Ausstellungsansicht "Große Realistik & Große Abstraktion", Foto: Städel Museum - Norbert Miguletz

Ab wann und wie hat sich die Sammlung deutscher Zeichnungen des 20. Jahrhunderts entwickelt?

1906 wurde die sogenannte Städtische Galerie gegründet und dem Städel angeschlossen. Die Ausrichtung der Städtischen Galerie lag und liegt auf Werken zeitgenössischer Künstler. Der damalige Direktor Georg Swarzenski trug in den folgenden Jahren eine beachtliche Sammlung zeitgenössischer Zeichnungen zusammen. Ab 1918 hat er Werke von Max Beckmann erworben und die Sammlung um Arbeiten deutscher Expressionisten erweitert. Durch die Beschlagnahmeaktion „Entartete Kunst“ wurde diese Sammlung 1937 nahezu komplett aufgelöst, das Museum verlor fast 600 Papierarbeiten – nicht nur Zeichnungen – von Ernst-Ludwig Kirchner, Erich Heckel, Karl Schmidt-Rottluff, Max Beckmann, George Grosz oder Otto Dix.

Max Beckmann, Landsturmmann Ernst Pflanz, 1915, Bleistift, radiert, auf Velinpapier, Städel Museum, Frankfurt am Main © VG Bild-Kunst, Bonn 2019, Foto: Städel Museum

Trotzdem bilden Beckmann und die Expressionisten heute noch einen Schwerpunkt der Sammlung.

Dies geht vor allem auf die umfangreiche Frankfurter Privatsammlung von Carl Hagemann zurück. Ernst Holzinger, der Nachfolger Swarzenkis, hatte die gesamte Kunstsammlung Hagemanns durch den Krieg gerettet, indem er sie im Keller des Städel untergebracht und teilweise mit der Sammlung des Museums ausgelagert hatte. Aus Dankbarkeit übergaben die Erben Hagemanns 1948 nahezu alle Arbeiten auf Papier dem Städel, mehr als tausend Blätter, darunter Zeichnungen von Ernst Ludwig Kirchner, Erich Heckel, Ernst Wilhelm Nay, Christian Rohlfs, Lyonel Feininger und Willi Baumeister. Durch diese großzügige Schenkung konnten die Lücken teilweise wieder geschlossen werden.

Ernst Wilhelm Nay, Lofotenlandschaft mit See und Kahn, 1938, Aquarell über Bleistift auf Vergé, Städel Museum, Frankfurt am Main © Elisabeth Nay-Scheibler, Köln / VG Bild-Kunst, Bonn 2019, Foto: Städel Museum

Wie ging es nach dem Zweiten Weltkrieg weiter?

Zu Beginn der 1950er Jahre entwickelte sich Frankfurt mit der Künstlergruppe Quadriga zum Zentrum des Informel in Deutschland, ebenfalls ein Schwerpunkt unserer Sammlung. Dieser Bereich wird von Werken der nachfolgenden Künstlergeneration ergänzt, die sich deutlich vom Informel abgrenzte. Baselitz, Immendorff, Penck, Lüpertz oder Kiefer setzten sich intensiv mit der jüngsten deutschen Geschichte auseinander und kehrten zu einer figürlichen oder gegenständlichen Bildsprache zurück. Seit 2008 bereichert auch die Sammlung der Deutschen Bank unseren Bestand deutscher Zeichnungen.

Jörg Immendorf, C. D. Teilbau, 1978, Gouache auf Papier, Städel Museum, Frankfurt am Main © The Estate of Jörg Immendorff, Courtesy Galerie Michael Werner Märkisch Wilmersdorf, Köln & New York, Foto: © Städel Museum

Wie strickt man aus der Vielfalt dieser Arbeiten eine Erzählung? Du hast die Ausstellung mit dem Titel „Große Realistik & Große Abstraktion“ überschrieben.

Der Titel greift ein Zitat von Wassily Kandinsky von 1912 auf: die „große Realistik“ und die „große Abstraktion“. Diese beiden Tendenzen haben sich damals besonders stark herauskristallisiert, sie bestimmten das folgende Jahrhundert weiter – ob in Abgrenzung zueinander oder als Synthese. Viele Künstler des 20. Jahrhunderts haben auf diese beiden Pole reagiert und sich dazu positioniert. Und sei es, dass jemand wie Johannes Grützke den Begriff „Realismus“ als Quatschwort und sich selbst nicht als „Realist“ bezeichnete, weil er sich ebenso als Surrealist oder Manierist verstand.

Johannes Grützke, Selbstbildnis, 1979, Pastellkreiden auf braunem Packpapier mit sechs Brandfehlstellen am unteren Rand, Städel Museum, Frankfurt am Main © VG Bild-Kunst, Bonn 2019, Foto: © Städel Museum

In der Ausstellung schwingen die tiefen Umbrüche des 20. Jahrhunderts mit. Wie haben sich die beiden Weltkriege und die innerdeutsche Teilung auf das Zeichnen ausgewirkt?

Die großen Umbrüche haben dazu geführt, dass Künstler ihren Stil an bestimmten Punkten ihres Lebens stark verändert haben. Auf der Suche nach einer neuen Form war die Zeichnung oft der erste Schritt, diese neue Form fernab des öffentlichen Urteils zu erproben. Auch ließ sich unter den widrigsten Umständen zu Papier und Stift greifen – in den Lazaretten während des Ersten Weltkriegs oder versteckt in den Wohnungen von Künstlern, die von den Nazis verfolgt wurden: Die Zeichenutensilien ließen sich schlicht schneller verstecken und rochen nicht so intensiv wie Ölfarbe. Es ist erschütternd zu lesen, wie Beckmann in den Schützengräben liegt und dennoch zeichnet, einfach, weil er es tun muss. Auch als Penck in der DDR unter Beobachtung stand, ließ er sich nicht davon abhalten zu zeichnen. Selbst wenn nicht alle Zeichnungen eindeutig politische Motive zeigen, schwingen die Ereignisse des 20. Jahrhunderts doch immer mit.

A.R. Penck, Grund, 1975-1976, Aquarell auf rauem Velinpapier, Städel Museum, Frankfurt am Main © VG Bild-Kunst, Bonn 2019, Foto: © Städel Museum

Das Projekt endet mit dem Jahr 1990 – welche Perspektive öffnet sich ab hier?

Bis zum Mauerfall haben Künstler in Deutschland immer wieder gegen Grenzen angezeichnet und sind für Demokratie eingetreten. Dieses Versprechen hat sich in den 1990er-Jahren eingelöst – auch wenn wir durch nationalistische Tendenzen gerade wieder einen Rückwärtstrend beobachten. Hier möchte ich persönlich gern weiter forschen, zur Frage, wie Künstlerinnen und Künstler ihre gewonnene Freiheit umgesetzt haben.

Georg Baselitz, Oberon, 1964, Bleistift und Farbstift auf geripptem Büttenpapier, Städel Museum, Frankfurt am Main © Georg Baselitz 2019, Foto: © Städel Museum

Liebe mit Höhen und Tiefen

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Die „Geschichte einer deutschen Liebe“, von der die aktuelle Van-Gogh-Ausstellung erzählt, beginnt Anfang des 20. Jahrhunderts, einer Zeit, als viele Künstlerinnen und Künstler, Sammlerinnen, Sammler und Kritiker die Kunst van Goghs für sich entdeckten und förderten. Van Goghs radikal moderne Kunst sorgte aber auch für Aufsehen und Empörung. Die ungewöhnlichen, kräftigen Farben und der neuartige Pinselstrich brachen mit den Sehgewohnheiten – gerade im konservativen wilhelminischen Kaiserreich. Doch der eigentliche Anstoß, den diese Malerei bei vielen erregte, ging über Geschmacksangelegenheiten hinaus: Auch Fragen der kulturellen Identität und Politik, ja sogar heute zweifelhafte Debatten über Rasse und Nation waren mit der Kunst des Niederländers verknüpft. In den Strudel dieser Polemik gerät auch das Städel Museum.

Vincent van Gogh, Bildnis des Dr. Gachet, 1890, Öl auf Leinwand, Privatsammlung, Foto: Bridgeman Images

Als der Direktor des Städel, Georg Swarzenski, im Jahr 1911 das berühmte Bildnis des Dr. Gachet (1890) für sein Museum erwirbt, findet der Ankauf keinesfalls nur Zustimmung. Im Gegenteil, der noch junge Direktor traut sich was! Denn im selben Jahr ist bereits ein Streit um die Werke van Goghs in der deutschen Öffentlichkeit entbrannt: Der Ankauf des Gemäldes Mohnfeld durch die Bremer Kunsthalle ist Auslöser für den sogenannten Bremer Künstlerstreit. Die öffentliche Kritik an der Einkaufspolitik des Museums gipfelt in der Streitschrift Ein Protest deutscher Künstler. Darin verurteilt der Worpsweder Maler Carl Vinnen mit 122 gleichgesinnten Künstlerinnen, Künstlern und Kritikern die vermeintliche „große Invasion französischer Kunst“ im wilhelminischen Kaiserreich. Tatsächlich wird van Gogh – der lange in Frankreich gelebt hat und selbst stark von französischer Kunst geprägt war – von vielen als „französischer“ Künstler wahrgenommen.

Carl Vinnen (Hrsg.), Ein Protest deutscher Künstler, Jena 1911

Die Argumente der Protestierenden – die Verschwendung deutscher Steuergelder für „ausländische“ Kunst und die Vernachlässigung „heimischer“ Kunstschaffender – verraten den polemischen Ton der Auseinandersetzung. Doch Verfechter der modernen, internationalen Kunst reagieren mit einer Gegenpublikation: In Im Kampf um die Kunst verteidigen Künstler, Galeristen und Museumsdirektoren die internationale Ausrichtung deutscher Museumspolitik. Auch der Frankfurter Städel Direktor Swarzenski unterzeichnet die Schrift und ihre unmissverständliche Botschaft: Die Wertschätzung von Kunst darf nicht an nationalen und kulturellen Grenzen halt machen.

Gustav Pauli (Hrsg.), Im Kampf um die Kunst. Die Antwort auf den Protest deutscher Künstler, München 1911

Die ideologischen Gräben aber bleiben tief: 1913 entflammt die hitzige Debatte um Kunst und Kulturpolitik erneut – diesmal in Stettin. Als van Goghs Gemälde Allee bei Arles (1888) in den Galerien des Städtischen Museums ausgestellt wird, erheben sich empörte Stimmen: „Ganz Stettin steht kopfschüttelnd vor diesen lächerlichen Pinseleien,“ verlautet es in den Zeitungen, von „perverser Kunst“ und den „Machwerken moderner Maler“ ist die Rede. Auch der schwelende Antisemitismus fließt in den Protest mit ein: Schuld an der vermeintlichen Tendenz, alles Neue blind zu fördern, sei der „starke jüdische Einfluss auf dem Kunstmarkt“. Bittere Wahrheit der Geschichte: Eine solche Rhetorik wird zwei Jahrzehnte später im nationalsozialistischen Deutschland eine radikal zerstörerische Kunstpolitik rechtfertigen.

Vincent van Gogh, Blick auf Arles, 1889, Öl auf Leinwand, Bayrische Staatsgemäldesammlungen, Neue Pinakothek München

Auch der Kaiser persönlich richtet sich gegen die Kunst der modernen Avantgarden, die sich von traditionellen Schönheitsidealen losgelöst hat. Van Goghs sichtbare Pinselstriche, die unkonventionellen Ansichten und seine eigenwillige Farbwahl – etwa die blau-violetten Pappelstämme in Blick auf Arles (1889) – solche gestalterischen Mittel sind Staatsoberhaupt Wilhelm II. zuwider. Kunst habe dem Naturvorbild genau zu folgen und diene in erster Linie der Erziehung des Volkes, verkündet der Regent. Als „Dreckskunst aus Paris“ und Kunst für den „Rinnstein“ beschimpft er die Werke der Moderne.

So sah typische Repräsentationskunst im Kaiserreich aus: Anton von Werner, Enthüllung des Richard-Wagner-Denkmals im Tiergarten, 1908, Öl auf Leinwand, Berlinische Galerie, Berlin

Aber nicht nur die Gegner der modernen Kunst greifen tief in die Kiste heute zweifelhafter Argumente. Auch unter den Förderern, Sammlern und Liebhabern van Goghs trifft man auf erstaunliche Parolen. Der Schriftsteller und Kunstkritiker Theodor Däubner erinnerte sich später an die erste Van-Gogh-Ausstellung in Deutschland – 1901 im berühmten Kunstsalon Paul Cassirers in Berlin – und „des Ereignis Tragweite“.  Die große Besonderheit van Goghs: Dieser sei „ein nordischer Mensch“ gewesen, dessen malerisches Genie im Süden Frankreichs entbrannt sei.

Vincent van Gogh, Allee bei Arles (Rand einer Landstraße), 1888, Öl auf Leinwand, Pommersches Landesmuseum, Greifswald

Van Gogh als Vertreter einer „nordischen Rasse“? Diese Vorstellung begleitet den Erfolg des Künstlers in Deutschland in den folgenden Jahrzehnten. Zahlreiche Stimmen beschreiben den „Naturburschen“ van Gogh, den „gothischen“ „lutherschen“ und „barbarischen“ Charakter seiner Person und Kunst. Die weitverbreiteten „Rassenlehren“ und das nationalistische Gedankengut der Zeit machen auch vor der Kunst nicht halt. In van Gogh sieht man einen Vermittler von vermeintlich ursprünglichen Ausdrucksformen eines „nordisch-germanischen“ Kulturkreises.

Auch der Ankauf des Bildnis des Dr. Gachet durch Städel Direktor Georg Swarzenski löst 1911 triefende, heute befremdliche Lobeshymnen aus. Der Philosoph Carl Gebhardt ist begeistert vom neuen Zuwachs des Frankfurter Museums und vergleicht van Gogh überschwänglich mit Kant, Schopenhauer, Goethe, Kleist, Beethoven und Wagner. „Wenn es das Wesen germanischen Geistes ist, Visionen des inneren Sinnes zu gestalten“, kann man bei Gebhardt lesen, „so hat er [der Germane] in van Gogh den Maler hervorgebracht, der in der Malerei seine Wesensart zum Siege verhalf.“ Diese erstaunliche Rhetorik veranschaulicht vor allem Eins: Auch die aufgeschlossenen und zukunftsweisenden Förderer van Goghs von damals sind uns heute fremd geworden.

Ein Leben für die Kunst

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Im Portraitraum der Liebieghaus Skulpturensammlung, nahe des Städel Museums, ist eine einzige Büste aus dem 20. Jahrhundert zu sehen:  Sie stammt von Georg Kolbe, ist 1915 entstanden und zeigt Georg Swarzenski (1876 – 1957). Damals stand Swarzenski  gerade am Beginn einer bahnbrechenden Karriere als Museumsleiter. In den ersten drei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts hat der weltoffene und innovative Kunsthistoriker die Sammlung des Städel Museums und des Liebieghauses maßgeblich gestaltet.

Hunderte von Gemälden, Graphiken und Skulpturen wurden während seiner Amtszeit für beide Häuser erworben, Namen wie van Gogh, Manet, Monet, Renoir, Degas, Rodin, Gauguin, Beckmann, Kirchner, Modersohn-Becker, Munch, Cézanne, Chagall, Rousseau, Klee, Nolde und Picasso. Zahlreiche dieser Werke sollten später von den Nationalsozialisten beschlagnahmt werden. Mit der Machtübernahme 1933 fand seine Frankfurter Laufbahn ein brutales und tragisches Ende.

Am Beginn einer beeindruckenden Karriere: Georg Kolbe, Porträt Georg Swarzenski, 1915 (Guss 1931), Städel Museum, Frankfurt am Main (links) / Ad. Halwas, Georg Swarzenski (1876-1957), Berlin, 1899, Städel-Archiv, Frankfurt am Main

Swarzenski war in einer wohlhabenden und gebildeten polnisch-jüdischen Familie aufgewachsen, die in Dresden ansässig war, aber ursprünglich aus Posen (Poznan) stammte. Sein Vater Abraham Salomon Swarzenski war Bankier und Kaufmann. Als Georg Swarzenski 1906 die Direktorenstelle am Städel antrat – im Alter von gerade einmal 30 Jahren – hatte er schon eine beachtliche Karriere durchlaufen, war zweifach promoviert in den Fächern Jura und Kunstgeschichte, in letzterem mit einer Doktorarbeit über mittelalterliche Buchmalerei.

„… mit Sachkenntnis, Begeisterung und Liebe“

Swarzenski hatte zu dem Zeitpunkt nicht nur Erfahrungen als Wissenschaftler an der Universität und als Kurator gesammelt, sondern war auch viel gereist:  „Ehe ich in den Museumsdienst trat,“ schrieb Swarzenski in seiner Bewerbung, „war ich ein ganzes Jahr in Paris zu Studienzwecken ansässig, außerdem bereits vorher je ein Vierteljahr in Paris, in London, in Wien, kurz in Holland und Belgien. Von diesen längeren, andauernden Aufenthalten abgesehen, habe ich bereits seit meiner eigentlichen Studienzeit Italien, Frankreich, England, die Niederlande … ganz regelmäßig zu Studien- und Sammelzwecken besucht, sodaß ich diese Länder und ihre Kunstwerke genau kenne. Auch beherrsche ich die Sprachen dieser Länder und vor allem ihren Kunsthandel, sowohl für die alte, wie für die moderne Kunst.“

Selbstbewusst,  doch auch mit Demut vor der anstehenden Aufgabe, die Leitung eines altehrwürdigen Museums antreten zu wollen, schloss er seine Bewerbung mit den sorgfältig  gewählten Worten: „… Wenn ich mir nun erlaube, Ihnen meine Dienste für die Direktorstelle an Ihrem Institut anzubieten, so geschieht das nach reiflicher Erwägung und ausschließlich in der Überzeugung, daß ich die Aufgaben, die dort an mich herantreten würden, mit Sachkenntnis, Begeisterung und Liebe erfüllen würde …“

Anonym, Städel Museum, ca. 1929, Privatbesitz

Die Bewerbung überzeugte: Der weltgewandte Swarzenski fand in der internationalen Messestadt Frankfurt ein neues Zuhause. Bei seinem Antritt 1906 befand sich die private Stiftung – das  Städelsche Kunstinstitut – aufgrund mangelnder Mittel und Preissteigerungen auf dem Kunstmarkt in einer Zeit des Umbruchs. Doch es wartete noch eine weitere Herausforderung auf Swarzenski: der Auftrag zum Aufbau einer Städtischen Galerie. Frankfurt sollte durch die Angliederung dieses neuen Museums an das 1815 gegründete Städel erstmals eine eigene städtische Sammlung zeitgenössischer Kunst bekommen.

Den entscheidenden Impuls hierzu hatte eine private Stiftung gegeben, die – so die Auflage an die Stadt – für den Ankauf qualitätvoller Werke lebender Künstler zu verwenden war. Bei der Ausarbeitung des Gründungsprogramms musste Swarzenski taktisch klug vorgehen, denn das private Städelsche Kunstinstitut war zur Unabhängigkeit verpflichtet. Zugleich musste eine Konkurrenzsituation zwischen Städel und Stadt ausgeschlossen werden.

Swarzenski bot mit seinem Programm einen geschickten Lösungsweg an. Die Sammeltätigkeit des Städelschen Kunstinstituts solle sich auf die Malerei und Grafik Alter Meister bis einschließlich des 19. Jahrhunderts beschränken, während die neuzugründende städtische Sammlung vier Aufgabenbereiche zu erfüllen hatte: den Aufbau einer Skulpturensammlung (die im Liebieghaus untergebracht werden sollte), einer kunstwissenschaftlichen Sammlung von Nachbildungen, einer Abteilung für Frankfurter Kunst sowie einer „Modernen Galerie“. Swarzenski startete unverzüglich mit der Umsetzung seiner Mission. Zunächst erwarb er zeitgenössische Künstler aus der Region, konzentrierte sich jedoch schon bald auf Werke der französischen Moderne.

Nach dem Erweiterungsbau für die moderne und zeitgenössische Kunst: Blick in den Impressionistensaal im Städelschen Kunstinstitut, um 1922

Bereits 1910 konnte er kapitale Werke wie Monets Das Mittagessen sowie zwei wichtige Arbeiten von Renoir für die Sammlung gewinnen – alle drei Direktankäufe von den Künstlern selbst. Schließlich gelang ihm im Jahr 1911 der äußerst diffizile Ankauf des Gemäldes Das Bildnis des Dr. Gachet von Vincent van Gogh. In diesem Jahr französische Kunst zu erwerben, war ein kulturpolitisches Statement gegen nationalistische Tendenzen. Swarzenski war unter den führenden Kunsthistorikern, die sich im deutschen Kaiserreich explizit für eine internationale Ausrichtung der modernen Kunst engagierten.

Ab 1910 begann Swarzenski auch expressionistische Werke für Frankfurt zu erwerben. Unter den frühesten Eingängen in die Sammlung finden sich  Gemälde von Pechstein und Kokoschka, Papierarbeiten von Nolde, Kollwitz, Lehmbruck, Barlach, Heckel, Kirchner und Beckmann – und weiterhin auch französische Kunst: Henri Matisse’s Gemälde Fleurs et céramique und Zeichnungen von Denis, Signac, Matisse, Cross, Maillol, Monet und Pascin. 1919  erwarb Swarzenski das erste Gemälde von Max Beckmann, die Kreuzabnahme, und gleich zwei Gemälde von Ernst Ludwig Kirchner, darunter Selbstbildnis als Soldat – beides Werke, die den Patriotismus des ersten Weltkriegs radikal in Frage stellten.

Wenige Highlights von hunderten Werken der Moderne, die durch Swarzenski ans Städel Museum kam: Claude Monet, Das Mittagessen / Le Déjeuner, 1868/69, Öl auf Leinwand, Städel Museum, Frankfurt am Main
Henri Matisse, Blumen und Keramik, 1913, Öl auf Leinwand, Städel Museum, Frankfurt am Main © Succession H. Matisse / VG Bild-Kunst, Bonn
Edgar Degas, Die Orchestermusiker, 1872; Öl auf Leinwand, Städel Museum, Frankfurt am Main, Foto: Städel Museum, U. Edelmann
Gustave Courbet, Die Woge, 1869, Städel Museum, Frankfurt am Main, Eigentum des Städelschen Museums-Vereins e.V.
Franz Marc; Liegender Hund im Schnee, 1910/1911; Öl auf Leinwand, Städel Museum, Frankfurt am Main, Eigentum des Städelschen Museums-Verein e.V.

Ende der Zwanzigerjahre war  Swarzenski, der seit 1914 auch Honorarprofessor an der Frankfurter Universität war, auf dem Höhepunkt seiner Karriere: Frankfurt berief ihn zum Generaldirektor aller städtischen Museen. Zwei Jahrzehnte nach seinem Umzug war er zweifelsohne zum Frankfurter geworden.

Doch mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten sollten sich die Vorzeichen für die einst liberal und progressiv bestimmte Frankfurter Kunst- und Kulturpolitik – die Swarzenski wesentlich geprägt hatte – drastisch ändern. Aufgrund seiner jüdischen Herkunft wurde Swarzenski im Alter von 57 Jahren  aus seinem Amt als Generaldirektor entlassen. Die  expressionistischen Gemälde der modernen Galerie wanderten ins Depot.

„Es bleibt die Frage, ob Nerven, Seele, Arbeitskraft nicht kaputt gehen.“

Zwar konnte Swarzenski weiterhin als Direktor des Städelschen Kunstinstituts – der privaten Stiftung – im Amt bleiben, doch man sah sich bereits nach einem geeigneten Nachfolger um. In einem Brief an seinen Berliner Kollegen Erwin Panofsky vom 9. Juni 1933 beschreibt Swarzenski die unwürdigen, deprimierenden und kräftezehrenden Umstände, unter denen er versuchte, seine Arbeit als Städel Direktor fortzusetzen: „Die ‚äußere’ Regelung, mein Verbleiben am Städel, könnte eine befriedigende, sachlich sogar schöne Lösung sein, aber noch ist es fraglich, ob dies wirklich auf die Dauer durchzusetzen sein wird, und es bleibt die Frage, ob Nerven, Seele, Arbeitskraft nicht kaputt gehen.“

Anonym, Die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen des Städel Museums anlässlich des 30-jährigen Dienstjubiläums von Georg Swarzenski, Städel Museum, Frankfurt am Main

Als er im September 1938 seine Koffer packte, um Frankfurt für immer  zu verlassen, hatte das Reichspropagandaministerium große Teile der  Modernen Galerie im Städel als „entartet“ beschlagnahmt. Schließlich war er auf Druck der Gauleitung aus seinem Amt als Direktor des Städel Museums entlassen worden – ein Haus, das er 30 Jahre, ein halbes Leben, geleitet hatte.

Am Boston Museum of Fine Arts konnte dieser außergewöhnliche und hochverdiente Mann, der Frankfurt und dem Städel so viel gegeben hatte, schließlich eine neue Tätigkeit als „Fellow for Research in Medieval Art and Sculpture“ finden. Er knüpfte dort in einem unbekannten Land, das er nur 1926 einmal bereist hatte, wieder an sein Spezialgebiet an: die mittelalterliche Kunst. „Es gehört zur Größe Swarzenskis,“ schrieb einmal sein Freund und Kollege, der Kunsthistoriker Oswald Goetz, „es ist ein Zeichen seiner gestaltenden geistigen Kraft und seiner moralischen Stärke, daß er gerade gegen die Ungunst der Zeit unbeirrt seiner Arbeit nachgegangen ist.“

Anonym, Georg Swarzenski, undatiert

Fast zwanzig Jahre  arbeitete Swarzenski auf dieser vergleichsweise bescheidenen Position als Wissenschaftler und Kurator weiter. Als er 1957 im Alter von 81 Jahren starb, titelte die New York Times in seinen Nachruf nichtsdestotrotz: „Georg Swarzenski, Museum Director.“ Als solcher hat er die Sammlung und Geschichte des Städel Museums mit „Sachkenntnis, Begeisterung und Liebe“ geprägt. Die Spuren seines Wirkens sind bis heute gegenwärtig.

„Die vorwurfs-vollen blauen Augen“

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Als Anfang Dezember 1937 Vincent van Goghs berühmtes Bildnis des Dr. Gachet aus der Sammlung des Städel abgezogen wurde, war die Verzweiflung groß. Museumsassistent Oswald Goetz musste das Gemälde nach Berlin verschicken und erinnerte sich später in Briefen und Memoiren: Seit die Kiste mit dem Kunstwerk „wie ein Sarg“ verschlossen worden war, konnte er „die vorwurfsvollen blauen Augen des Doctors nicht mehr loswerden.“ In der Ausstellung MAKING VAN GOGH steht der leere Bilderrahmen, in dem das Porträt 1911 ans Städel gekommen war, für diesen einschlägigen Moment in der Geschichte des Museums. Und er führt dabei eine Gewissheit eindrücklich vor Augen: Gesellschaftliche und politische Begebenheiten machen auch vor der Kunst nicht halt.

Das Bildnis des Dr. Gachet zählte zu den rund 20.000 Werken, die im Zuge der zerstörerischen Kunstpolitik der Nationalsozialisten aus deutschen Museen beschlagnahmt wurden. Die sogenannte „Aktion Entartete Kunst“ in den Sommermonaten 1937 zielte vor allem auf die Kunst der Moderne, auf Werke der Avantgarden des frühen 20. Jahrhunderts, der Expressionisten, Surrealisten, Dadaisten und jüdischer Künstler. Was in den 1910er und 20er-Jahren meist mühsam und mit innovativem Gespür gesammelt worden war fiel dem nationalsozialistischen „Bildersturm“ zum Opfer.

Städel Direktoren Alfred Wolters und Georg Swarzenski (2. v. l.  und Mitte) um 1929. Unter Swarzenski kam das „Bildnis des Dr. Gachet“ 1911 ans Städel, unter Wolters wurde es 1937 aus dem Museum beschlagnahmt.

Auch im Städel Museum hatte die Reichskammer der Bildenden Künste hunderte Gemälde, Grafiken und einige wenige Skulpturen „sicherstellen“ lassen. Alfred Wolters, Direktor der Städtischen Galerie – der damaligen modernen Sammlung des Städelschen Kunstinstituts – beschrieb die Vorgänge entsetzt als „schwere Verstümmelung und merkbare Rangminderung“ der Bestände. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Städel erlebten, dass einige der beschlagnahmten Kunstwerke in der berüchtigten Propaganda-Schau „Entartete Kunst“ öffentlich verfemt wurden. Die Wanderausstellung brach ab dem 19. Juli 1937 in verschiedenen deutschen Städten Besucherrekorde: Schmäh-Sprüche und Karikaturen an den Ausstellungswänden diffamierten die Kunst als „krankhaft“ und „verwaist“ – leiteten das Publikum an, sie zu verlachen und zu verachten.

Ausstellung "Entartete Kunst" im Galeriegebäude am Münchener Hofgarten, 1937, 3. Raum
Ausstellung "Entartete Kunst" im Galeriegebäude am Münchener Hofgarten, 1937, 5. Raum, mit Max Beckmanns Stillleben mit Saxophonen, 1926, heute Städel Museum, erworben 1927, beschlagnahmt Oktober 1936, rückerworben 1955
Große Deutsche Kunstausstellung, Haus der deutschen Kunst, Hauptsaal, München 1937, Hauptsaal

Die Kunst Vincent van Goghs war in der Ausstellung „Entartete Kunst“ nicht zu sehen. Auch das Bildnis des Dr. Gachet blieb am Städel von den ersten Wellen der „Säuberungsaktion“ verschont. Vorerst.

Vincent van Gogh, Bildnis des Dr. Gachet, 1890, Öl auf Leinwand, Privatsammlung, Foto: Bridgeman Images

Warum kam es später, im Dezember 1937, dann doch noch zur Konfiszierung des Porträts? – diese Frage ist bis heute nicht vollständig geklärt. Der führende Nationalsozialist Hermann Göring persönlich sollte sich van Goghs Gemälde aneignen. In einem ehemaligen Berliner Kornspeicher, in dem die deutschlandweit abgezogenen Werken lagerten, konnte der Reichsminister zuschlagen. Göring wusste: Die Kunst van Goghs versprach hohe Gewinne auf dem internationalen Kunstmarkt. Im Mai 1938 begründete Göring schließlich offiziell der Stadt Frankfurt und dem Städel Museum seinen Plan, das Bildnis des Dr. Gachet gegen ausländische Devisen einzutauschen und unwiderruflich zu enteignen: Man dürfe „mit dem Verkauf des van Gogh nicht mehr länger zurückhalten.“ Beim Bildnis des Dr. Gachet handele es sich „um ausgesprochen entartete Kunst“. Bediente sich Göring lediglich dieser fatalen Kategorie, um seine finanzpolitischen oder gar persönlichen Interessen durchzusetzen?

Depotraum für „entartete Kunst“ im Schloß Schönhausen in Berlin, 1938-39

Eine solche Erklärung greift wohl zu kurz, denn ideologisch lag längst in der Luft, was Göring zementierte: Van Gogh war schon früh ins Visier der nationalsozialistischen Chefideologen geraten. Seine ausdrucksstarke Malweise, die offenen, farbkräftigen Pinselstriche, aber auch der Ruf des „wahnsinnigen“ Einzelgängers waren den Theoretikern der NS-Führung suspekt. Für Alfred Rosenberg beispielsweise, der die moderne Literatur, Musik und Kunst des frühen 20. Jahrhunderts mit „geistiger Syphilis“ gleichsetze, verkörperte Vincent van Gogh eine bereits „krankhafte“ Generation. Auch „dieses Geschlecht (…) ergab sich dem Chaos“, polemisierte Rosenberg 1930 in seinem einflussreichen Buch Der Mythus des 20. Jahrhunderts: „Und Vincent malte Apfelbäume, Kohl und Straßensteine. Bis er verrückt wurde.“

Heinrich Hoffmann, Alfred Rosenberg (links) und Adolf Hitler (Mitte) bei der Einweihung eines Kriegerdenkmals in München, 1923

Die späte Beschlagnahme des Bildnis des Dr. Gachet kam wohl auch für die Mitarbeiter des Städel Museums nicht ganz überraschend. Direktor Alfred Wolters war bereits im August 1937 auf einer offiziellen Tagung „zur einheitlichen Ausrichtung der Museen“ in Berlin über die zunehmend kritische Haltung der NS-Führung zu van Goghs Kunst informiert worden. Gemeinsam mit Künstlern wie Edward Munch, James Ensor und Paul Cézanne wurde der Niederländer zunächst zum „problematischen Ausländer“ herabgestuft. Doch die Botschaft verschärfte sich auf einer zweiten „Tagung deutscher Museumsleiter“ Ende November 1937: Die in Berlin versammelten Direktoren mussten erfahren, dass van Gogh – genau wie die alten Meister Rembrandt und Grünewald – letztgültig der „Entartung“ zuzurechnen sei.

Telegramm über den „Empfang grundsätzlicher Weisungen für die einheitliche Ausrichtung der Museen“, 30.7.1037, Städel-Archiv

Die nationalsozialistischen Ideologen begründeten dies mit einem bezeichnend biologistischen Umkehrschluss: Die eigentümliche Malweise van Goghs sah man als Ausdruck seiner vermeintlich psychisch „krankhaften“ Verfasstheit und genetischen „Abirrung“; die Kunst des Niederländers sei so „pathologisch“ wie dessen Biografie. Der Kunstkritiker Paul Westheim kommentierte damals die Inhalte der Tagung bissig aus dem Schweizer Exil: „Dass van Gogh […] kein wahrer Künstler sei, gehe schon daraus unmissverständlich hervor, dass er sich in einem Anfall von Geisteskrankheit ein Ohr abgeschnitten habe. Anfälle von Geisteskrankheit sind nationalsozialistisch nur tragbar, wenn sie bei deutschen Philosophen (Nietzsche), deutschen Dichtern (Hölderlin), deutschen Musikern (Schumann) auftreten; bei Malern selbstverständlich nicht, der nordische Maler malt nur mit unbeschnittenen Ohren.“

Im Tagungssaal in Berlin kam es angesichts der neu verkündeten Sichtweisen der NS-Führung zum Eklat: Eine aufgebrachte Gruppe der einflussreichen Gäste verließ geschlossen den Saal. So heftig war die Empörung einiger Museumsleiter, dass das zuständige Reichserziehungsministerium die Tagung abschließend als „geheim“ deklarierte. Dennoch – im Fall des Bildnis des Dr. Gachet machte die NS-Führung ernst. Am 2. Dezember 1937, genau fünf Tage nachdem Direktor Wolters aus Berlin nach Frankfurt zurückgekehrt war, erreichte ihn die offizielle Benachrichtigung: Der Präsident der Reichskammer der Bildenden Künste „verfügte“ über fünf weitere Gemälde, darunter auch van Goghs Porträt seines Nervenarztes.

Aus dem rigiden Weltbild, das die nationalsozialistische Kulturpolitik vertrat, sollte die bewegte Malweise van Goghs – vielleicht auch die Lebensintensität des Künstlers – verbannt werden. Was bis heute weltweit an van Goghs Kunst und seiner Biografie fasziniert, entsprach letztlich nicht dem sterilen Schönheitsideal der nationalsozialistischen Dogmatiker.

Der leere Gachet-Rahmen im Depot des Städel Museums

Die bewegte Geschichte des Bildnis des Dr. Gachet sollte noch weitere Wendungen nehmen: 1990 wurde es in New York als das damals teuerste Gemälde der Welt versteigert und ist seitdem aus den Augen der Öffentlichkeit verschwunden. An welchem Ort auch immer der melancholische Dr. Gachet heute aus dem Gemälde schaut – seine „vorwurfsvollen blauen Augen“ lesen sich auch aus der Distanz wie ein stummer Kommentar der Ereignisse.

In der Not verbunden

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Das in leuchtenden Pastellfarben strahlende Gemälde von Maurice Denis zeigt seine Familie beim Frühstück an einem Sommermorgen. Diese unbeschwerte Stimmung bildet einen jähen Kontrast zu der dramatischen Krise, die seinem Verkauf an das Städel Museum vorausging: Als das Museum das Gemälde vor fast hundert Jahren, im Juni 1926, erwarb, erholte sich die junge Weimarer Republik gerade von einer brutalen Hyperinflation. Unzählige Familien hatten zu diesem Zeitpunkt ihre Ersparnisse verloren, und auch den Museen fehlten die Ankaufsmittel. Die Besitzerin des Gemäldes, Pauline Kowarzik, war damals in eine finanzielle Notlage geraten und musste nun ihre Privatsammlung moderner französischer und deutscher Kunst auflösen. Sie verkaufte sie en bloc gegen eine monatliche Leibrente von 500 Reichsmark an das Städel.

Maurice Denis, Frühstück, 1901, Städel Museum, Frankfurt am Main, Foto: U. Edelmann, erworben 1926

Bevor das Frühstück von Denis in den Ausstellungsräumen des Museums zu sehen war, hing es in Pauline Kowarziks privatem Kunstsalon im Frankfurter Westend. Eine befreundete Kunsthistorikerin beschrieb die exquisite Privatsammlung rückblickend: „ …  der sommerlich heitere Maurice Denis ‚Auf der Terrasse,‘ die köstliche Freilichtstudie eines Frauenaktes von H.E. Cross, ein delikates Stilleben von Braque, ein koloristisch kühner Nolde, einige charakteristische Heckel, Franz Marc mit einem großzügigen blonden Frauenakt, Munch, Klee, Paula Modersohn, Campendonk und andere Werke, die seit Jahren im Staedel hängen, schmückten noch während des Krieges zwei große, ineinandergehende Räume mit weiten Fenstern … “

Wer war diese kunstsinnige Frau?

Heute weiß kaum jemand, dass Pauline Kowarzik 1916 die erste Frau mit beratender Funktion im Ankaufsgremium der Städtischen Galerie im Städel war, ebenso wenig wie dass sie auch als Stifterin den Aufbau der modernen Abteilung des Museums maßgeblich prägte.

Pauline Kowarzik, geb. Fellner und verwitwete von Guaita, wurde 1852 in Frankfurt geboren und wuchs in einem bildungsbürgerlichen Umfeld auf. Sie erhielt bereits in jungen Jahren privaten Mal- und Zeichenunterricht. Etwa um die Jahrhundertwende nahm Kowarzik Unterricht bei dem Neo-Impressionisten Curt Herrmann, später außerdem bei Heinrich Campendonk. Somit hatte sie auch technische Kenntnisse der zeitgenössischen Malweisen.

Josef Kowarzik, Doppelbüste Josef und Pauline Kowarzik, 1903, Städel Museum, Frankfurt am Main, erworben 1926 von Pauline Kowarzik

Ihr erster Ehemann, Louis Hermann von Guaita, verstarb nur wenige Jahre nach der Hochzeit und ließ die Witwe mit zwei Kindern zurück. Als die beiden bereits erwachsen waren, ging Pauline von Guaita 1896 eine zweite Ehe mit dem Wiener Bildhauer und Medailleur Josef Kowarzik ein, der auch am Städelschen Kunstinstitut Skulptur unterrichtete. Gemeinsam waren sie im Frankfurter Kunstleben sehr aktiv. Besonders engagierte sich das Ehepaar in der mit dem Städelschen Kunstinsitut eng verbundenen Künstlervereinigung Frankfurter Künstlergesellschaft.

Unbekannter Fotograf, Josef Kowarzik in seinem Atelier, 1903, Historisches Museum Frankfurt am Main

Im September 1909 – Josef Kowarzik war unheilbar erkrankt – verfasste das Ehepaar ein Testament, das mit dessen Ableben die Verwendung ihres Vermögens zu einer Stiftung vorsah. Der Josef und Pauline Kowarzik Hilfsfonds hatte die Förderung zeitgenössischer deutscher Kunst zum Ziel. Die Stiftung sollte vor allem Künstler berücksichtigen, deren Wirkungskreis sich im Umkreis der Städte Frankfurt am Main, Darmstadt, Karlsruhe, Düsseldorf, Stuttgart und Straßburg befand. Die Kowarziks hatten insbesondere notleidende Künstler im Blick, als sie verfügten: „Liegt der Fall vor, dass ein freischaffender Künstler von bekanntem idealen Wert auf seiner Bahn durch Krankheit oder Misserfolge zusammengebrochen ist, so soll dieser Fall zunächst berücksichtigt werden.“

Im März 1911 verstarb Josef Kowarzik, sodass die Stiftung wenige Jahre vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs zur Anwendung kam. Das Städel Museum erhielt in den folgenden Jahren eine Reihe von Werken regionaler, heute kaum mehr bekannter Künstler wie Karl Albiker, Hermann Haller und Alexander Soldenhoff als Dauerleihgaben der Pauline und Josef Kowarzik Stiftung.

Die einzige Frau unter vielen Männern

Im Kriegsjahr 1916 wurde Pauline Kowarzik im Alter von 64 Jahren zur ersten Frau mit beratender Stimme in die Deputation der Städtischen Galerie berufen. Die sogenannte Galeriedeputation setzte sich damals zusammen aus dem Oberbürgermeister der Stadt, städtischen Beamten und dem Direktor des Städel Museums, Georg Swarzenski, sowie Mitgliedern der Städel Administration und des Städelschen Museums-Vereins. Während Kowarziks Tätigkeit als Fachmitglied realisierte das Museum bedeutende zeitgenössische Gemäldeerwerbungen, unter anderem von Franz Marc, Ernst Ludwig Kirchner, Henri Matisse und Max Beckmann.

Franz Marc, Liegender Hund im Schnee, 1910/1911; Öl auf Leinwand, Städel Museum, Frankfurt am Main, Eigentum des Städelschen Museums-Verein e.V., erworben 1919 von Maria Marc; beschlagnahmt 1937; Wiederankauf durch den Städelschen-Museumsverein e.V., Frankfurt am Main, 1961

1917 gründete Kowarzik gemeinsam mit einer Gruppe von Kunsthistorikern und Künstlern die Vereinigung für Neue Kunst mit dem Ziel, „eine Brücke zwischen Kunst und Welt“ zu schlagen und die zeitgenössischen Künstler durch Vorträge, Ausstellungen und Ankäufe zu fördern. Der progressive Impuls der Vereinigung für Neue Kunst wurde jedoch bald von der herannahenden wirtschaftlichen Krise überschattet. Kowarzik sah sich nun gezwungen, ihre Stiftung innerhalb kürzester Zeit aufzulösen. Die Dauerleihgaben gingen – so sah es die Stiftungssatzung im Notfall vor – in das Eigentum des Museums über. Schließlich musste Kowarzik aus finanziellen Gründen ein Jahr später, 1926, auch ihre Privatsammlung moderner Kunst an die Städtische Galerie im Städel verkaufen und erhielt im Gegenzug eine monatliche Leibrente und den Erlass städtischer Steuern.

Kowarziks Sammlung kommt ans Städel

Städel Direktor Georg Swarzenski hatte die insgesamt 34 Stücke der Sammlung, darunter auch Gemälde von Cross, van Dongen, Gauguin, Rousseau und Serusier und Modersohn-Becker mit einer Summe von 56.300 RM bewertet. Durch die regelmäßige Auszahlung konnte Kowarzik, die sich über Jahrzehnte für die junge Kunst und die Finanzierung notleidender Künstler eingesetzt hatte, nun ihre eigene Existenz sichern – und sich weiterhin ihren eigenen künstlerischen Aktivitäten widmen.

Pauline Kowarzik, Bauplatz der IG Farben, 1929, Farbkreide auf Papier, Städel Museum, Frankfurt am Main

Bis zuletzt arbeitete sie an einer Serie von Pastellzeichnungen des IG Farben Baugeländes, das sie von ihrem Fenster aus beobachten konnte. „Eine seltene Frau! Voll Elan und Enthusiasmus bis in ihr hohes Alter, voll Sinn für die Reize einer jungen Kunst, – die zwei Generationen von ihr entfernt war. Ein schaffensfreudiger Mensch – bis an die Schwelle des Todes,“ schrieb die Kunstzeitschrift Der Cicerone in ihrem Nachruf.

Paul Gauguin, Aus Tahiti, 1902, erworben 1926 von Pauline Kowarzik; im Dezember 1937 beschlagnahmt als „entartete Kunst“ durch das Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda und am 30. Juni 1939 durch die Galerie Fischer Luzern in der Auktion Gemälde und Plastiken moderner Meister: aus deutschen Museen versteigert (Abbildung aus Auktionskatalog 1939)

Wieso Pauline Kowarzik dennoch in Vergessenheit geraten ist? Das hängt sicherlich auch mit dem Schicksal ihrer Sammlung während der NS-Zeit zusammen. Durch die Beschlagnahmeaktion „Entartete Kunst“ wurde die Sammlung Kowarzik im Städel größtenteils zerschlagen. Insgesamt 18 der 34 Werke wurden im Auftrag des Reichspropagandaministeriums entfernt. Sie sind heute entweder verschollen oder befinden sich in Museen in Deutschland, Belgien, Irland und in der Schweiz.

Paul Sérusier, Kleine Landschaft mit Tangfischern, ca. 1889, Städel Museum, Frankfurt am Main, erworben 1926

Einige Glanzstücke ihrer Sammlung sind dem Städel jedoch erhalten geblieben, darunter Meisterwerke wie Henri Rousseaus Die Allee im Park von Saint-Cloud, Paul Sérusiers Kleine Landschaft mit Tangfischern und eben auch Maurice Denis’ Frühstück. Sie alle hingen einst im privaten Salon von Pauline Kowarzik und zeugen heute im Städel von ihrem Engagement für die moderne Kunst.

Eine wechselvolle Geschichte

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„Graphik für 1000 M[ark] ausgewiesen“ notierte Städel Direktor Georg Swarzenski (1876-1957) am 14. Oktober 1918. Zehn Papierarbeiten hatte er bei seinem Besuch im Atelier des Künstlers in der Schweizer Straße 3 ausgewählt sowie das Gemälde Kreuzabnahme. Letzteres war zwar für Max Beckmanns Galeristen Jsrael Ber Neumann bestimmt, dennoch konnte Swarzenski es schließlich für 8000 Mark ankaufen. Seine Auswahl beinhaltete insbesondere Werke, die die Gewalt und das Trauma des Ersten Krieges schonungslos darstellten.

Kreuzabnahme, 1917, Öl auf Leinwand, erworben 191819 (heute The Museum of Modern Art, New York)

Die größte öffentliche Beckmann-Sammlung entsteht

Bereits zuvor, im März 1916, hatte Beckmann dem Museum über den Frankfurter Galeristen Ludwig Schames ein Blumenstilleben angeboten. Das hatte Swarzenski allerdings abgelehnt. Das Gemälde Kreuzabnahme hingegen, das er im Atelier des Künstlers besichtigt und selbst ausgewählt hatte, wollte er um jeden Preis in die Sammlung holen: „ … ich habe d i e s e s Bild gewählt, weil ich hier einmal gerade diese Dinge von einem ganz starken Künstler in ganz echter Weise dargestellt fand … Beckmann war im Kriege und hat das ganze Grauen dort erlebt,“ schrieb er an den Vorsitzenden der Ankaufskommission. Dieser hatte sich vehement gegen die Erwerbung ausgesprochen.

Max Beckmann, Bildnis Georg Swarzenski, 1921, Lithographie, Städel Museum

Zwischen Swarzenski und Beckmann entwickelte sich im Laufe der Jahre eine enge freundschaftliche Beziehung. Der Museumsdirektor unterstützte den Künstler, der seit 1925 eine Meisterklasse an der Frankfurter Kunstgewerbeschule leitete, durch umfangreiche Erwerbungen und setzte sich in den städtischen Gremien für ihn ein. „Viele schöne Abende haben wir in Frankfurt bei den Swarzenskis verlebt,“ erinnert sich Quappi Beckmann später in ihren Memoiren. „Georg Swarzenski kaufte auch die ersten Gemälde von Max Beckmann für das Städel.“ Bis 1932 erwarb Swarzenski insgesamt dreizehn Gemälde des Künstlers und über hundert Arbeiten auf Papier, darunter Schlüsselwerke wie Das Nizza in Frankfurt am Main (heute Kunstmuseum Basel), Selbstbildnis mit Quappi (heute Museum Kunstpalast Düsseldorf), Doppelbildnis, Strand (Verbleib unbekannt) und Gesellschaft III / Battenbergs (Verbleib unbekannt).

Die Sammlung wird zerschlagen

Mit der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten kam es jedoch zu einem jähen Bruch: Swarzenski – der seit 1928 Generaldirektor der Städtischen Museen war – wurde aus diesem Amt entlassen, Beckmann aus seiner Lehrtätigkeit an der Kunstgewerbeschule. Swarzenski musste sich vor einem Untersuchungsausschuss gegen vermeintliche Missstände in der Stadtverwaltung rechtfertigen. Die Förderung des Künstlers, der mittlerweile Frankfurt verlassen hatte und in Berlin lebte, war dabei ein zentraler Anklagepunkt.

Das Nizza in Frankfurt am Main, 1921, Öl auf Leinwand, erworben 1921 (heute Kunstmuseum Basel)
Selbstbildbnis mit Quappi, Öl auf Leinwand, erworben 1925 (heute Museum Kunstpalast, Düsseldorf)
Doppelbildnis (Carola Netter und Marie Swarzenski), Öl auf Leinwand, erworben 1923, Städel Museum, Frankfurt am Main
Strand, 1927, Öl auf Leinwand, erworben 1927, Verbleib unbekannt
Gesellschaft III Battenbergs, Öl auf Leinwand, erworben 1930, Verbleib unbekannt
Landsturmmann Ernst Pflanz, Brustbild, Zeichnung, erworben 1918, Städel Museum, Frankfurt am Main
Große Operation, Kaltnadelradierung, 1914, erworben 1918, Verbleib unbekannt

Beckmanns Gemälde wurden aus der Schausammlung des Städel entfernt und wanderten ins Depot. Noch vor der Beschlagnahmeaktion im Juli und August 1937 verließen zwei seiner Werke – Kreuzabnahme und Stilleben mit Saxofonen – als Leihgaben die Sammlung des Städel und kehrten danach nie mehr zurück. Sie waren für eine Propagandaausstellung in München angefordert worden, die den „Bolschewismus“ anprangerte. Sie wurden dort als abschreckende Zeugnisse „entarteter Kunst“ präsentiert.

Im darauffolgenden Sommer wurde dann die von Swarzenski errichtete Beckmann Sammlung bis auf wenige Ausnahmen durch das Reichspropagandaministerium beschlagnahmt. Von den zehn Gemälden Beckmanns, die im Juli 1937 auf der Femeausstellung „Entartete Kunst“ in München gezeigt wurden, stammten fünf aus der Städel Sammlung. Zahlreiche Arbeiten des Künstlers wurden schließlich im Auftrag des Reichspropagandaministeriums „verwertet“ und gegen Devisen in der Schweiz und in den USA verkauft, darunter die Kreuzabnahme (heute Museum of Modern Art, New York), Das Nizza (heute Kunstmuseum Basel) sowie Blaue Blumen und Selbstbildnis mit Quappi (beide wurden am 30. Juni 1939 von der Galerie Fischer in Luzern versteigert).

Alte Freundschaft, neues Fundament

Nach dem Krieg und noch während der amerikanischen Besatzungszeit organisierte Swarzenskis Nachfolger Ernst Holzinger gemeinsam mit Beckmanns Münchner Galeristen Günther Franke im Juni 1947 eine erste Ausstellung des ehemals verfemten Künstlers. Sie wurde fast ausschließlich mit Werken aus Privatbesitz bestückt, darunter mehr als sechzig Gemälde. Der Museumsdirektor hatte im März 1947 an Beckmann geschrieben: „Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, was die Aussicht auf diese Ausstellung für Ihre Frankfurter Freunde und Verehrer künstlerisch und menschlich bedeutet.“ Aus Anlass dieser Ausstellung schenkte Günther Franke dem Museum mehrere Grafiken. Der Museumsdirektor dankte ihm mit den Worten: „Sie sind ein erster wesentlicher Grundstein zum Wiederaufbau unserer verlorenen Beckmann-Sammlung und geben mir Hoffnung für die Zukunft.“

Ausstellungsplakat „Max Beckmann,“ 1947, Städel Museum, Frankfurt am Main

1949 konnten dann erste Konvolute der großen Graphik-Sammlung des mit Beckmann befreundeten Künstlerehepaars Fridel und Ugi Battenberg erworben werden. Diese mit den Frankfurter Jahren des Künstlers so eng verknüpfte und in dieser Zeit entstandene Privatsammlung – die Battenbergs hatten Beckmann 1915 bei sich aufgenommen und ihm ein Atelier zur Verfügung gestellt – bildet heute das Fundament der nach 1945 wiederaufgebauten Beckmann Sammlung im Städel.

Der Zirkuswagen (1940) in der Gedächtnisausstellung „Max Beckmann“, Städel Museum, Frankfurt am Main, 21.1.1951-4.3.1951

Wo stehen wir heute?

Ein Jahr nach dem Tod des Künstlers realisierte die Stadt Frankfurt im Jahr 1951 schließlich mit dem Zirkuswagen (1940) den ersten Ankauf eines Beckmann Gemäldes in der Nachkriegszeit. Seither hat das Städel kontinuierlich weitere Arbeiten des Künstlers erworben – zuletzt das Selbstbildnis mit Sektglas (1919). Mit zwölf Gemälden, 46 Zeichnungen und circa 280 Druckgraphiken – ergänzt um vier Dauerleihgaben – verfügt es heute wieder über eine der größten Beckmann-Bestände weltweit. Ein dauerhaft eingerichteter Beckmann-Raum im Sammlungsbereich Moderne würdigt die enge Verbundenheit des Künstlers mit der wechselvollen Geschichte des Museums.

Blick in den Beckmann-Saal im Städel Museum, Foto: Städel Museum – Norbert Miguletz

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